Quelle: Uwe Braun
Magazin MitbestimmungMontanmitbestimmung: Bis heute unerreicht
Vor 70 Jahren wurde den Beschäftigten der Kohle- und Stahlindustrie mehr Mitsprache eingeräumt als jemals danach. Jetzt ist die Krise zurück − und das Modell bewährt sich wieder. Von Kay Meiners
Als Oskar Lafontaine noch das Saarland regierte, gab es in seinem Bundesland zwei Stahlkocher: Dillinger und Saarstahl. Beiden ging es nicht gut – allein Saarstahl verlor jeden Tag eine Million Mark und meldete 1993 schließlich Konkurs an. Um das Ausbluten zu verhindern, einigten sich Landespolitik, Gewerkschaften und Anteilseigner in den Folgejahren auf eine Art Sicherheitsanker: Im Jahr 2001 wurde die Montan-Stiftung-Saar gegründet. Über eine Tochter, die Stahl-Holding-Saar (SHS), übt die Stiftung faktisch die Kontrolle über beide Unternehmen aus. Zentrale Aufgaben wie Personalwesen, Finanzwesen und allgemeine Verwaltung werden durch die SHS übernommen. Der Erhalt der Stahlindustrie und die Sicherung nachhaltiger, wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze sind als Stiftungszwecke festgeschrieben. Zudem fällt die Unternehmensgruppe unter das Montanmitbestimmungsgesetz von 1951. Das heißt: echte Parität ohne Doppelstimmrecht, dazu eine neutrale Person, die das Vertrauen beider Seiten genießt. Dem Unternehmenschef, damals gern noch „Generaldirektor“ genannt, stellte das Gesetz einen „Arbeitsdirektor“ zur Seite, zuständig für Personal und Soziales, getragen auch vom Vertrauen der Beschäftigten.
Bei Dillinger und Saarstahl heißt der Arbeitsdirektor seit 2020 Joerg Disteldorf. Der gebürtige Saarländer ist Mitglied der IG Metall, stieg als Managementtrainee bei Dillinger ein und ist inzwischen SHS-Geschäftsführer. Allein im Saarland ist der gelernte Betriebswirt für rund 10 000 Beschäftigte zuständig. Angesichts der angespannten wirtschaflichen Lage auf dem Stahlmarkt, die durch die Corona-Pandemie weiter verschärft wurde, ist das keine einfache Aufgabe. Die Dillinger Gruppe schloss das Geschäftsjahr mit einem Betriebsergebnis von minus 192,8 Millionen Euro, der Saarstahl-Konzern mit minus 171,2 Millionen Euro.
Auch eine Stiftungskonstruktion kann das Unternehmen nicht von der Welt draußen abschirmen. Zwar sind die Eigenkapitalquoten der beiden Unternehmen hoch, aber das macht nicht unabhängig vom Kapitalmarkt oder von explodierenden Rohstoffpreisen: „Die Chinesen kaufen weltweit so viel Eisenerz, dass die Preise steigen, und gleichzeitig gibt es Überkapazitäten im Stahlmarkt. Diese Branche hat ein Strukturproblem“, sagt Disteldorf.
Die Produktion einfacher Stähle ist längst abgewandert, nur Topprodukte haben hier eine Chance. Die Unternehmen der SHS-Gruppe haben sich auf anspruchsvolle Qualitäten spezialisiert – für die Auto- und Bauindustrie, den Maschinenbau, Offshore-Windkraft oder für die Luft- und Raumfahrtindustrie. Aber Produktion in Deutschland ist teuer. „Die Ergebnisse sagen uns: Wir müssen an die Kosten ran. Der Personalaufwand ist dabei auch eine Stellgröße von vielen“, erklärt Disteldorf.
Keiner fliegt – trotz Krise
Im Klartext: Auch die Zahl der Beschäftigten muss angepasst werden. Das Jahr 2020 wurde, wie Disteldorf sagt, „ohne betriebsbedingte Kündigungen“ gemeistert. Das in einem solchen Jahr zu schaffen, ist die eigentliche Leistung eines Arbeitsdirektors. Möglich war dies unter anderem durch Altersteilzeitvereinbarungen und die Gründung von Transfergesellschaften. „Hire and Fire gibt es bei uns nicht“, sagt Disteldorf.
Aktuell zieht die Nachfrage wieder an. „Es sieht aus, als ob wir durch das Tief durch sind“, meint Disteldorf, der sich nebenbei auch noch mit anderen aktuellen Trends der Personalarbeit befassen muss – dem Umgang mit flexiblen Arbeitsorten, Strategien der Mitarbeiterbindung auch in der Distanz. Corona zwang die Unternehmen, die Verwaltung umzukrempeln. Aktuell arbeiten knapp 20 Prozent der Belegschaft im Homeoffice.
Wegen des hohen Organisationsgrads und der starken Mitbestimmung im Betrieb und im Aufsichtsrat haben sozial- und personalpolitische Themen eine große Bedeutung. Jan-Paul Giertz, der im Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung das Referat Personalmanagement und Mitbestimmung leitet, hält das Montanmitbestimmungsgesetz mit der Rolle des Arbeitsdirektors, der „in „kollegialer Mitverantwortung“ die innere Verfassung des Unternehmens prägt, für einen „bahnbrechenden gesellschaftsrechtlichen Ansatz“.
Zusammen mit einer einflussreichen Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat vermag der Arbeitsdirektor als „Vertrauensmanager“ der Belegschaft, Zielkonflikte früh zu erkennen und konstruktiv aufzulösen.
Das Ziel, nachhaltige und langfristig wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu sichern, muss sich am Ende am Markt bewähren. Fehlentwicklungen wie etwa in der Arbeiterselbstverwaltung im früheren Jugoslawien, wo Unternehmen dauerhaft nicht bereit waren, überschüssiges Personal zu entlassen, und Produkte unter den Herstellungskosten verkauften, am Leben gehalten von immer neuen Krediten, gab es in Deutschland nie. Im Gegnteil: Die starke Mitbestimmung erwies sich als Segen für die Menschen und das Land. Andere europäische Stahlreviere, etwa in Belgien oder Großbritannien, haben den Strukturwandel nicht so gut verkraftet.
Das liegt auch an dem Gesetz, das in diesem Jahr den 70. Geburtstag feiert. Dass es Arbeitnehmer auch in aktuellen Krisen schützt, das wird aktuell im Saarland wieder deutlich. Arbeitsdirektor Disteldorf gibt sich allerdings bescheiden, sagt: „Per Gesetz ist mir kein besonderer Machtanspruch gegeben.“ Allerdings weiß er um die Bedeutung, die die Position des Arbeitsdirektors mit sich bringt: „Wer mit den Stimmen der Arbeitnehmer bestellt ist, ist hier auch in einer ganz besonderen Verantwortung.“
Eine DNA für die Zukunft
Deshalb wird in einer Zeit, in der Corona und eine veritable ökologische Krise unsere Art, zu leben, infrage stellen, wieder verstärkt darüber nachgedacht, ob das Gesetz aus der Urzeit der Bundesrepublik nicht eine zeitgemäße und erprobte DNA in sich trägt, die für die Gegenwart nutzbar zu machen ist. Doch Leute, die sich Arbeitsdirektor nach dem Gesetz von 1951 nennen können, gibt es kaum noch. Giertz schätzt die Zahl auf „nicht mal mehr 30“. Doch er ist überzeugt, das alles, was nach der Montanmitbestimmung kam, weniger gut war: „Es wird Zeit, dieses Modell auf andere Unternehmen zu übertragen, das Mitbestimmungsgesetz von 1976 zu renovieren und nach dem Modell Montanmitbestimmung auf die Anforderungen des 21. Jahrhunderts auszurichten.“
Wie alles anfing
Am 10. April 1951 wurde vom Deutschen Bundestag das Montanmitbestimmungsgesetz verabschiedet. Darin wurde die gleichberechtigte Stellung der Belegschaften und ihrer Gewerkschaften in den Entscheidungsorganen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie festgelegt.
Wichtig ist, daran zu erinnern, dass die Unternehmensmitbestimmung stets umkämpft war. Der DGB, der als Lehre aus der Geschichte nach 1945 die paritätische Mitbestimmung auf allen Ebenen der Wirtschaft gefordert hatte, stieß von Anfang an auf heftigsten Widerstand der Arbeitgeber. Nur durch die Androhung eines Arbeitskampfs konnte dieses Ziel zumindest für den Bereich der Montanindustrie erreicht werden. Aber selbst dort wurde das Gesetz immer wieder infrage gestellt. Im Januar 1955 legten deshalb bundesweit etwa 820 000 Berg- und Stahlarbeiter die Arbeit nieder. Auch in der Folgezeit musste die Montanmitbestimmung, die ausgehöhlt zu werden drohte, mehrfach gesetzlich oder vertraglich gesichert werden, und die Arbeitgeber ließen nicht nach, die paritätische Mitbestimmung als einen „Fremdkörper“ in der sozialen Marktwirtschaft zu verleumden.
Die Bemühungen des DGB ab den 1960er Jahren, die Unternehmensmitbestimmung nach dem Modell der Montanmitbestimmung auf alle Branchen auszuweiten, wurden als „Rückfall in den Klassenkampf“ diffamiert. Die Arbeitgeber warnten vor einem „Gewerkschaftsstaat“, und das Mitbestimmungsgesetz, das 1976 zustande kam, blieb hinter der Forderung nach Parität deutlich zurück.
Die Montanmitbestimmung hat dagegen Maßstäbe gesetzt. An ihr orientierten sich alle Initiativen der Gewerkschaften, die Mitbestimmung in den Unternehmen auszubauen. Entgegen allen Unkenrufen beeinträchtigte die Montanmitbestimmung die Wirtschaftlichkeit in keiner Weise. Sie trug vielmehr dazu bei, dass neben betriebswirtschaftlichen und technischen Gesichtspunkten auch die soziale Seite in der Entscheidungsfindung der Unternehmen gleichberechtigt berücksichtigt wurde. Die betriebliche Praxis auf den Zechen und in den Hüttenwerken wurde zu einer Ideenwerkstatt einer qualifizierten, vorausschauenden Personal- und Sozialpolitik. Im Bereich des Arbeitsschutzes und der Arbeitssicherheit, der Aus- und Weiterbildung wie auch der menschengerechten Arbeitsplatzgestaltung wurden wegweisende Konzepte entwickelt; erstmals wurde hier das Instrument des Sozialplans angewandt. Diese Innovationen fanden schließlich Eingang in die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes vom Januar 1972.
Gerade in der Krise hat sich paritätische Mitbestimmung besonders bewährt, indem sie gravierende soziale Folgen vermeiden oder doch abmildern konnte.
Von Karl Lauschke, Historiker und Vorsitzender des Vereins Freunde des Hoesch-Museums e.V. Karl Lauschke hat den zweiten Band der Böckler-Biografie verfasst.