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Arbeiter-Bildungsverein Konstanz (um 1910) Magazin Mitbestimmung

Geschichte: „Besseren Einsichten zugängig“

Ausgabe 01/2024

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – die Werte der Französischen Revolution prägten von Anfang an die Arbeiterbildung. Die Idee von Emanzipation durch Bildung lebt noch immer, sucht aber nach zeitgemäßen Formen. Von Andreas Wenderoth

„Ein freundlicher Morgen vereinigt die Teilnehmer mit geröteten Wangen zur Arbeit im Kursusraum. Ein aufmunterndes Lied und Genosse Zimmer behandelt die sozialistische und kommunistische Ideenwelt.“ So beschreibt die sozialdemokratische Zeitung Volkswacht 1931 einen Wochenendkurs des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds (ADGB) im „Bunten Haus“, dem heutigen Verdi-Bildungszentrum in Bielefeld. „‚Brüder, zur Sonne, zur Freiheit‘, mutig klang das Lied durch den ernsten Kursusraum. Der Gong erinnerte tönend an den knurrenden Magen.“

Das Fundstück ist ein kleines Puzzleteil in der Geschichte des Bunten Hauses, die der Historiker und Soziologe Karl Lauschke vor einigen Jahren zusammengetragen hat. Seine kleine Schrift ist, wie durch ein Vergrößerungsglas betrachtet, nicht nur die Historie einer Bildungsstätte, sondern eine Geschichte der gewerkschaftlichen politischen Bildung in Deutschland zwischen 1925 und 2000. Die Originalzitate künden vom pädagogischen Duktus der jeweiligen Epoche. „Ohne eine einzige Ermahnung haben die Kollegin und die Kollegen an allen Unterrichten und Veranstaltungen mit großem Eifer teilgenommen“, heißt es 1953. „Sie waren für alle Probleme aufgeschlossen und besseren Einsichten zugängig.“ Interessant auch, zu erfahren, dass Hans Böckler einmal auf einer harten Pritsche nächtigen musste, weil das Bunte Haus wegen einer gleichzeitig stattfindenden Frauentagung völlig überfüllt war.
 

Von der Bildung zur Bewegung

Die Geschichte der Arbeiterbildung beginnt lange vor der Gründung des Bunten Hauses – mit der Französischen Revolution. Die Ideen der Aufklärung wecken auch in der langsam entstehenden deutschen Arbeiterschicht den Wunsch nach Teilhabe. Doch der Schritt vom Untertan zum Bürger ergibt sich nicht von selbst: Er benötigt Bildung und Erziehung. Die Demokratisierung der Gesellschaft, aber auch der Pauperismus in der einsetzenden Industrialisierung sind die Geburtshelfer der Erwachsenenbildung. Zwischen 1770 und 1800 erlebt Deutschland einen Gründungsboom von Handwerkerbildungsvereinen und Lesegesellschaften, deren Mitglieder zunächst überwiegend aus den gebildeten Oberschichten bestehen. Bald treten auch sozial orientierte Vereinigungen auf den Plan. So schreibt sich die Ansbacher Gesellschaft 1817 die „Beschäftigung ganz verarmter Personen“ und „Vorbeugung weiterer Verarmung“ auf die Fahnen.

Paris 1832: Während in Deutschland die Restauration herrscht, gründen emigrierte Intellektuelle, Kaufleute und Handwerker den Großdeutschen Verein, zu dem auch Heinrich Heine zählt. Er gilt als Urverein der Handwerker- und Arbeiterbildungsvereine. Die aus dem Ausland Zurückkehrenden bringen die Ideen von Karl Marx mit nach Deutschland. Am 2. Januar 1845 wird der zunächst stark sozialistisch agierende Hamburger Bildungsverein für Arbeiter gegründet. Um einem Verbot zu entgehen, muss sich der Verein mit der bürgerlichen Patriotischen Gesellschaft verbinden und politische Bildungsarbeit in philosophischen Veranstaltungen verstecken. Bald verlangt die explosionshafte Zunahme der Arbeiterbildungsvereine nach einer übergreifenden Organisation: Im Revolutionsjahr 1848 entsteht die Arbeiterverbrüderung, die neben einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht auch die Regelung von Arbeitszeiten und Arbeitslosenunterstützung fordert.

  • Ausflug mit dem Autobus (um 1930): Geselligkeit und Emanzipation
    Ausflug mit dem Autobus (um 1930): Geselligkeit und Emanzipation

Aus der Arbeiterbildung wird zunehmend eine Arbeiterbewegung. Den Herrschenden ist sie ein Dorn im Auge. Der preußische Innenminister von Manteuffel etwa bezeichnet den Berliner Handwerkerverein als eine „Eiterbeule der Gesellschaft“. Vorsichtshalber streicht die Arbeiterverbrüderung in ihren Statuten alle Stellen, die die Staatsmacht provozieren könnten. Dennoch werden 1851 die preußischen Vereine verboten, drei Jahre später auch die Arbeiterverbrüderung. Erst Ende der 1850er Jahre gewinnen liberale Kräfte an Einfluss, neue Arbeiterbildungsvereine entstehen.1863 wird der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) gegründet.

Mitgründer Ferdinand Lasalle („Die Arbeiter müssen alles lernen, was in der heutigen Gesellschaft zu lernen ist, wenn sie nicht ewig Lohnsklaven bleiben wollen“) gibt einen entschieden sozialistischen Kurs vor. Nicht allen Arbeitervereinen gefällt das. Viele schließen sich unter der Führung des Drechslermeisters August Bebel zum Verband Deutscher Arbeitervereine (VDAV) zusammen, der eher den bürgerlich-liberalen Parteien nahesteht.

Allmählich beginnen sich aus den Arbeitervereinen Vorläufer der Gewerkschaften herauszubilden. Außerdem sind sie die Keimzelle für die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) auf Initiative Bebels und Wilhelm Liebknechts 1869 in Eisenach. Für Liebknecht ist Bildung „das mächtigste Mittel zur sozialen Emanzipation“.

1878 ist es mit der Emanzipation jedoch vorerst zu Ende: Bismarcks Sozialistengesetz schränkt die politischen Aktivitäten der Arbeiter stark ein. Als Bismarck 1890 aus dem Amt entlassen und das Sozialistengesetz nicht verlängert wird, ist die Arbeiterbildung wieder im Auftrieb: Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs erleben die Arbeiterbildungsvereine ihre erste große Blütezeit.

In der Weimarer Republik wird erstmals verstärkt über das pädagogisch-methodische Vorgehen der Arbeitervereine diskutiert. Staat und Erwachsenenbildung, früher noch entschiedene Gegner, bewegen sich aufeinander zu. Die SPD unter Führung von Friedrich Ebert sieht in der Bildungsarbeit ein wichtiges Mittel zur Demokratisierung. Die Gewerkschaften unter dem Dach des 1919 in Nürnberg gegründeten ADGB werden zum Hauptträger der Arbeiterbildung. In Großstädten wie Berlin und Hamburg etablieren sich permanente Bildungseinrichtungen, die teils mit den Universitäten kooperieren. Die Berliner Gewerkschaftsschule nennt sich „Freie Hochschulgemeinde für Proletarier“ und soll Arbeiter „mit den Qualitäten von Wirtschaftsführern und Staatsmännern ausstatten“. Im Mai 1921 entsteht in Frankfurt am Main die Arbeiterakademie. Ihre Konzeption stammt wesentlich von Hugo Sinzheimer, heute bekannt als „Vater des deutschen Arbeitsrechts“. Er sieht die Aufgabe der Akademie darin, dass sie „auch die Angehörigen der abhängigen Arbeit zur Wahrnehmung selbständiger Funktionen im Staat und in der Wirtschaft befähigt“.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ist es mit der unabhängigen Bildung der Arbeiterklasse vorbei. Die Einrichtungen werden geschlossen oder gleichgeschaltet.

  • Diskussionsrunde mit Oskar Negt in Frankfurt am Main (1969): Themen wie der Sinn von Streiks stehen jetzt auch an der Uni auf der Tagesordnung.
    Diskussionsrunde mit Oskar Negt in Frankfurt am Main (1969): Themen wie der Sinn von Streiks stehen jetzt auch an der Uni auf der Tagesordnung.

Demokratie und Klassenkampf

Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die gewerkschaftliche Bildungsarbeit in den westlichen Besatzungszonen durch die „Reeducation“ der Alliierten unterstützt. In der sowjetisch kontrollierten Zone setzt der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) ganz andere Akzente. Eine freie Arbeiterbildung wie vor 1933 gibt es nicht mehr, weil die Parteiführung der neu gegründeten DDR eine Interessenidentität von Regierung und Arbeiterklasse behauptet. Die staatliche, flächendeckend ausgebaute Volkshochschule wird zum Vorläufer der 1959 gegründeten Arbeiter- und
Bauern-Fakultät; Walter Ulbricht erklärt permanentes Lernen zur „ersten Bürgerpflicht“.

In der jungen Bundesrepublik fehlen der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit zunächst die Dozenten – zu groß die Verluste durch die NS-Verfolgung. Aus dem Nationalsozialismus zieht man hier ganz andere Konsequenzen. Die  Erwachsenenbildung soll sich nicht mehr parteipolitisch vereinnahmen lassen. Betont werden jetzt Freiheit und Autonomie. Die soziokulturelle Bildung steht im Mittelpunkt, Internationalismus und der Gedanke eines künftig geeinten Europas.

Die Volkshochschulen beginnen, mit den Gewerkschaften zu kooperieren. 1951 wird in Köln die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Arbeit und Leben gegründet, die aus den Vorsitzenden der VHS-Landesverbände und den Bildungssekretären des DGB besteht. Sie existiert bis heute, die Angebote stehen allen offen. 1972 wird zusätzlich das DGB-Bildungswerk als Weiterbildungsorganisation für die allgemeine, politische und gewerkschaftliche Wissensvermittlung gegründet.

Unter dem Einfluss der APO und der Studentenbewegung werden seit den 1960er Jahren Ziele und Funktionen der Bildungsarbeit neu bestimmt. Die Ausbildung wird jetzt auf ein sozialwissenschaftliches Fundament gestellt. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann betrachtet „Erziehung als Formung des Lebenslaufs“, und der Soziologe Oskar Negt („Demokratie ist die einzige staatlich verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss“) will auch den Klassenkampf neu beleben. Seine Schrift „Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen“ rüstet die neuen sozialen Bewegungen mit einem Konzept aus, das Lernen in Aktion umwandeln soll.

Mit den Reformen der sozialliberalen Regierung in den 1970er Jahren und der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes expandiert die Bildungspolitik. Selbstbezogene und -gesteuerte Lernformen stehen jetzt im Vordergrund. Aber immer noch wird um pädagogische Konzepte und Methoden gerungen. Die Rahmenkonzeption der IG Metall Ende der 1990er Jahre knüpft erneut an Negt an und will Raum für „konkrete Utopien“ schaffen. Bildungsarbeit soll vermitteln, dass gesellschaftliche Verhältnisse historisch gewachsen „und damit veränderbar sind“. Bis heute schreiben sich die Gewerkschaften das auf die Fahnen; sie bieten Seminare zu alternativen Wirtschaftsformen, Europapolitik, Rechtspopulismus oder zur Zukunft des Mediensystems an.

Lesetipps

  • Josef Olbrich: Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland. Leske + Budrich Verlag, 2001
  • Karl Lauschke: Ein Ort gewerkschaftlicher Bildung. 75 Jahre „Buntes Haus“, Bochum, 2000

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