Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Besser mit Betriebsrat
PRAXIS Es ist möglich, auch bei psychischen Belastungen Fortschritte im Arbeitsschutz zu erzielen. Dazu braucht man ein ganzheitliches Gesundheitsmanagement - und engagierte Arbeitnehmervertreter.
Von INGRID WEIDNER, Journalistin in München/Fotos: imago (l.), Evonik Steag GmbH
Im Jahr 2007 wandte sich Beate König* an die Wissenschaftler des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) in München. In ihrer Firma, deren Namen sie ebenso wenig wie ihren eigenen gedruckt sehen will, sah die Betriebsrätin täglich, wie die enormen psychischen Belastungen die Gesundheit vieler Kollegen ruinierten. Angst um den Arbeitsplatz aufgrund einer geplanten Fusion belastete die Beschäftigten, unter ihnen viele im Alter um die 50 Jahre, die in ihrem bisherigen Arbeitsleben viel für ihre Firma geschuftet hatten. Jetzt entstand aus den Geschäftsbereichen Kommunikationstechnik von zwei internationalen Konzernen ein neues Unternehmen. "Wir hatten die Hoffnung, dass es nach der Fusion aufwärtsgeht, doch bald war klar, dass nur möglichst viele Mitarbeiter entlassen werden sollten", erzählt sie. Die Münchener Wissenschaftler erforschten damals Möglichkeiten, Gesundheitsrisiken für Beschäftigte zu reduzieren. Ihr Projekt hieß PARGEMA - die Abkürkzung für "partizipatives Gesundheitsmanagement".
Die Geschäftsleitung stimmte zu, sich an dem Forschungsprojekt zu beteiligen. Doch die Betriebsrätin vermutet heute, dass das nur eine halbherzige Entscheidung war. Angst vor Jobverlust und ständige Selbstüberforderung bestimmten weiterhin den Arbeitsalltag. Gerade unter den Älteren ging die Angst um; sie wussten, dass ein beruflicher Neuanfang schwierig werden würde. "Niemand wollte Schwäche zeigen", erinnert sie sich. Viele häuften Überstunden an, ignorierten Arbeitszeiten, nur um die gestiegenen Anforderungen zu erfüllen. Trotzdem wurde ihnen keine Wertschätzung entgegengebracht. Die neue Konzernsprache Englisch setzte einige der älteren Führungskräfte zusätzlich unter Druck. "Plötzlich mussten alle Verhandlungen und Telefonate in Englisch geführt werden", erinnert sich König. Das Gleiche galt für E-Mails und Protokolle.
Dennoch plädierten einige Mitglieder des Betriebsrates für eine zurückhaltende Vorgehensweise gegenüber der Firmenleitung. Eine geplante Gefährdungsanalyse scheiterte an der Uneinigkeit der Arbeitnehmervertreter. "Viele jüngere Kollegen interessierten sich nicht für das Thema, da sie sich als leistungsstark einschätzten und nur ihre Karriere im Blick hatten", sagt König. Seitens der Geschäftsleitung gab es keine Bereitschaft, etwas zu tun. "Das lag nicht am Geld", erinnert sich die Betriebsrätin. So ging wertvolle Zeit verloren. Als die Wissenschaftler des ISF sich mit anonymen Fragebögen und Interviews einen Überblick verschafft hatten, konnte niemand mehr ihre Verbesserungsvorschläge umsetzen. Im Herbst 2008 wurde die weitgehende Schließung des Standorts beschlossen. Der Versuch, für die verbleibenden Mitarbeiter ein Gesundheitsmanagement zu installieren, scheiterte im Mai 2009.
ZUSAMMENARBEIT ALS ERFOLGSFAKTOR_ Beim Energieversorger Evonik Steag sieht es besser aus - nicht nur für die Zukunft des Unternehmens, sondern auch für die Gesundheit der Mitarbeiter. Hier kümmern sich Arbeitsdirektor Alfred Geißler und Betriebsrat Ralf Melis um das Wohl der Beschäftigten. Viele der rund 3340 Mitarbeiter an unterschiedlichen Standorten sind im Schichtbetrieb beschäftigt, denn die Energieversorgung der Haushalte mit Strom und Fernwärme muss immer sichergestellt sein - auch am Wochenende an Weihnachten. "Das ist eine extreme Stressbelastung, denn die Mitarbeiter tragen hohe Verantwortung. Fällt eine Anlage aus, müssen notwendige Reparaturen schnell erledigt werden", sagt Geißler. Das Durchschnittsalter der Belegschaft liegt heute bei knapp 49 Jahren. Rücken- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden häufiger.
Vor ein paar Jahren Jahren war in den Kraftwerken noch der klassische Schichtbetrieb mit sieben Tagen am Stück üblich. In Lünen und einigen anderen Standorten wurde auf Initiative des Betriebsrates auf einen dem Biorhythmus angepassten Schichtdienst gewechselt. "Dort arbeiten die Kollegen an zwei Tagen Frühschicht, an zwei Tagen Mittagsschicht und an zwei Tagen Nachtschicht. Daran schließen sich drei freie Tage an. Mit diesem Rhythmus kommen die Kollegen besser klar", erläutert Betriebsratsvorsitzender Ralf Melis.
In einem Kraftwerk tragen Blockfahrer, Schichtführer und Schichtmeister besonders hohe Verantwortung. Für sie sind die psychischen Belastungen besonders groß. "Der Adrenalinspiegel der Kollegen, die für den reibungslosen Betrieb des Kraftwerks verantwortlich sind, ist hoch und es wird ständige Konzentration verlangt", so Melis. Inzwischen werden auf Initiative des Betriebsrats Kurse zur Stressbewältigung angeboten. Dort lernen die Mitarbeiter auch, was für einen gesunden Schlaf wichtig ist. "Gerade wer im Vollschichtbetrieb arbeitet, kann Tipps und Informationen gut gebrauchen", meint Melis.
Themen wie Demografie, ergonomische Belastungen sowie Führung und Kommunikation sind heute Teil der Personalarbeit. Seit 2007 entwickelt das Unternehmen zusammen mit der Terra Sana Life AG, einer Hamburger Beratungsfirma, ein Gesundheits- und Personalmanagement-Programm. Dazu zählen gesundheitsrelevante Maßnahmen, aber auch altersgerechte Arbeitsplätze und Arbeitsabläufe sowie Qualifikation und Wissenstransfer. "Wir haben gemerkt, dass wir einen ganzheitlichen Ansatz brauchen", sagt Betriebsrat Melis. Die enge Zusammenarbeit zwischen Betriebsrat und Unternehmensleitung sehen beide Seiten als wichtigen Erfolgsfaktor an.
GESUNDHEIT WIRD IN DEN ALLTAG INTEGRIERT_ "Besuchen Sie unser Fitness-Studio - benutzen Sie die Treppe". Diesen ironischen Hinweis finden Besucher und Mitarbeiter am Fahrstuhl der Firmenzentrale von Datev in Nürnberg. Das 1966 gegründete Unternehmen mit mehr als 5700 Mitarbeitern erstellt Software, bietet IT-Dienstleistungen für Steuerberater, Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer und betreibt ein Rechenzentrum. Angebote zur Gesundheitsvorsorge gibt es schon lange. "Ich lasse jedes Jahr meine Blutwerte analysieren", erzählt Betriebsratsvorsitzender Joachim Besser stolz. Seit 29 Jahren arbeitet der Informatiker für das Unternehmen und gehört seit 16 Jahren dem Betriebsrat an. Seit acht Jahren ist er Vorsitzender. Mehr als ein Fünftel der Angestellten bei Datev sind Software-Entwickler. Stress und Termindruck sind Belastungen, wie sie in vielen Unternehmen üblich sind. Gerade Informatiker verbringen den größten Teil ihres Arbeitstages vor dem Bildschirm.
Werden neue Geräte angeschafft, berät Betriebsrat Joachim Besser gemeinsam mit der Geschäftsleitung über den Kauf von geeigneten Modellen. "Wir konnten beispielsweise erreichen, dass bei sehr großen Bildschirmen sowohl eine Version mit Standfuß und eine mit höhenverstellbarer Schiene ins Portfolio aufgenommen wurde." Doch wichtiger als das Bildschirmmodell sind die Arbeitszeiten. Gerade viele Informatiker vergessen gern, auf die Uhr zu schauen. "Hier greift der Betriebsrat steuernd ein", erläutert Besser. Ein
Arbeitszeit-Ausschuss fordert beim Arbeitgeber regelmäßig Auswertungen an, um gezielt die betreffenden Mitarbeiter und ihre Führungskräfte anzusprechen, wenn die Arbeitszeiten ausufern. So soll Überlastungen vorgebeutgt werden.
Für etwa 390 Datev-Mitarbeiter kommt Mehrschichtarbeit als Problem hinzu, denn Rechenzentrum, Sicherheitsdienst oder auch Druck- und Versand-Abteilungen müssen rund um die Uhr fehlerfrei und sicher laufen. "Vor gut einem Jahr haben wir ein spezielles Programm für Mitarbeiter entwickelt, die im Schicht- oder Außendienst arbeiten", berichtet Daniela Schlosser, die das Gesundheitsmanagement der Datev seitens der Personalabteilung koordiniert. "Wir wollten zeigen, wie sich ein effektives Gesundheitsprogramm in den Arbeitsalltag von Schichtarbeitern integrieren lässt." Die ausgebuchten Workshops zeigten, dass solche Angebote vorher fehlten. Doch nicht jeder verträgt es auf Dauer, nachts zu arbeiten. "Wir beraten im Einzelfall und erarbeiten zusammen mit den Betroffenen und dem Arbeitgeber ein mögliches Ausstiegsszenario", sagt
Betriebsrat Besser.
Der Umgang mit psychischen Belastungen ist nur ein Teil eines ganzheitlichen Gesundheitsmanagements. In Gesundheitskursen lernen die Mitarbeiter viel über richtige Ernährung, den Umgang mit Stress oder Rückenproblemen. In der hauseigenen Kantine sorgen ein mediterranes Gericht pro Tag sowie das Salatbüfett für auch kalorienarme Ernährung. Denn am Ende - das weiß man seit Jahrtausenden - gehören Leib und Seele zusammen. Auch Sport verändert die Psyche - dafür stellt Datev Räume und Trainer zur Verfügung; die Mitarbeiter nutzen dieses Angebot in ihrer Freizeit.
Familienfreundliche Teilzeitmodelle runden das Work-Life-Balance-Konzept ab, um stressige Lebensphasen zu entspannen. "Rund 20 Prozent unserer Belegschaft arbeitet Teilzeit", berichtet Personalerin Schlosser. Das ist, wenn neben der Arbeit andere wichtige Aufgaben warten, ein echtes Stück Gesundheitsprävention. Für den Betriebsrat Besser haben die Führungskräfte dabei eine Vorbildfunktion: "Sie spielen eine wichtige Rolle als Gesundheitsmanager."
*Name von der Redaktion geändert
Interview
"Eine Aufgabe für den ganzen Betrieb"
Wolfgang Dunkel, Soziologe am Münchener Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF), über mitbestimmtes Gesundheitsmanagement und die Bekämpfung psychischer Belastungen
Sie erforschen, welche Maßnahmen Unternehmen helfen, Gesundheitsrisiken zu reduzieren. Welches sind die grössten psychischen Belastungen, denen Arbeitnehmer ausgesetzt sind? Zeit- und Leistungsdruck, Über- oder Unterforderung sowie Arbeitsplatzunsicherheit und mangelnde Anerkennung sind für viele eine große Belastung.
Viele Firmen arbeiten mit Zielvereinbarungen. Hilft das oder schadet es eher? Ziele können zu Erfolgserlebnissen führen, wenn sie erreichbar sind. Wenn sie jedoch unrealistisch sind, einseitig von der Arbeitergeberseite vorgegeben und nicht an neue Rahmenbedingungen angepasst werden, können sie zur Belastung werden. Das gilt auch, wenn Beschäftigte nicht die notwendigen Ressourcen zur Verfügung haben, die Ziele zu erreichen. Auch zu wenig Freiheit kann als Belastung empfunden werden.
Welche Rolle spielt der Betriebsrat im Gesundheitsmanagement? Der Betriebsrat kann eine große Rolle spielen, wenn er gewillt ist, das Thema Gesundheit nach vorne zu bringen und eine Öffentlichkeit im Betrieb herzustellen. Das Arbeitsschutzgesetz gibt den Betriebsräten mit der Gefährdungsbeurteilung ein Instrument in die Hand, mit dem viel erreicht werden kann.
An welche Grenzen stößt der Betriebsrat? Wenn man den Zusammenhang von Leistungspolitik und Gesundheit thematisiert, gerät man mitten in die arbeitspolitische Arena des Betriebes. Auch wenn alle gesunde Mitarbeiter haben wollen, entstehen doch Interessensgegensätze in der Frage, inwieweit hierfür Arbeitsbedingungen verändert werden müssen.
Was kann das Unternehmen tun, um die Stressfaktoren zu minimieren? Von den Beschäftigten wissen wir, dass Führungskräfte eine ganz zentrale Rolle dafür spielen, ob Mitarbeiter unter übermäßigen Leistungsdruck geraten. Ein erster Schritt besteht darin, dass sich die Führungskräfte selbst darüber bewusst werden, dass psychische Belastungen auch in ihrem Verantwortungsbereich eine Rolle spielen. Man darf den Erhalt der Gesundheit nicht allein den Beschäftigten überantworten, sondern muss ihn als betriebliche Aufgabe ansehen.
Viele Unternehmen engagieren sich in irgendeiner Weise. Was genau macht ein partizipatives Gesundheitsmanagement aus? Partizipation bedeutet für uns, dass Beschäftigte sich nicht nur individuell um ihre eigene Gesundheit kümmern, sondern auch auf eine gesundheitsförderliche Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen Einfluss nehmen können. Ziel muss es sein, solche Gestaltungsmöglichkeiten zu institutionalisieren.
Die Fragen stellte INGRID WEIDNER.