Quelle: Reuters/Kacper Pempel
Magazin MitbestimmungInternationales: Autoritärer Durchgriff
In Ungarn, Polen und Rumänien nutzen die Regierungen die Krise aus, um politische und soziale Rechte dauerhaft einzuschränken. Die Interessen der Beschäftigten bleiben auf der Strecke. Von Silviu Mihai
Vielleicht haben die Menschen in Ungarn, Polen und Rumänien einfach Glück gehabt: Glaubt man den amtlichen Statistiken, so verharren die Infektionsfälle pro 100 000 Einwohner bei vergleichsweise niedrigen 90 in Rumänien und 52 in Polen, in Ungarn bei unter 40.
Selbst wenn die Zahlen stimmen und die Bilanz der Pandemie im Vergleich etwa zu Italien oder Spanien, wo pro 100 000 Einwohner zwischen vier- und neunmal so viele Menschen an Corona erkrankt sind, nicht allzu dramatisch ausfallen sollte – unter den sozialen und politischen Folgen der Corona-Krise wird das Gros der Beschäftigten in den drei osteuropäischen Ländern wohl dauerhaft leiden. Das liegt nicht in erster Linie an den direkten Auswirkungen der pandemiebedingten Schließungen, obwohl diese gravierend waren und mangels ernst zu nehmender Sozialsysteme viele Menschen zwangen, ihre Ersparnisse aufzubrauchen. Vor allem fehlt der politische Wille, die Beschäftigten als gleichberechtigte Partner im gesellschaftlichen Dialog zu sehen. Bezeichnend für diese Denkweise ist, dass es unter der rechtspopulistischen Regierung von Viktor Orbán in Ungarn kein Arbeitsministerium mehr gibt, sondern ein Ministerium für menschliche Ressourcen. In der Folge erlaubt eines der jüngsten ungarischen Notstandsdekrete Unternehmen, 24 Monate lang von den „menschlichen Ressourcen“ Überstunden zu verlangen, um die Verluste aus der Zeit des Lockdown auszugleichen. Bezahlen müssen die Firmen sie, wenn überhaupt, erst zwei Jahre später.
Seit Mitte März dürfen ungarische Arbeitgeber mittels individueller Vereinbarungen vom geltenden Gesetz sowie von den kollektiven Tarifverträgen abweichen. „Dadurch wurde das gesamte Arbeitsrecht praktisch außer Kraft gesetzt“, kommentiert Tamás Szűcs von der Lehrergewerkschaft PDSZ. Laut Regierung sollen die Maßnahmen die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie abmildern – auch für den Arbeitgeber Staat, der das Schulpersonal beschäftigt. „Während der Ausgangssperre hatten wir keine Möglichkeit, uns zu wehren, aber selbst wenn der Notstand bald wieder aufgehoben wird, sieht es nicht viel besser aus“, sagt Szűcs. „Schon seit einigen Jahren lassen sich in Ungarn nämlich Streiks nur noch mit äußerster Mühe und sehr gutem Rechtsbeistand organisieren.“ Der Gesetzgeber hat die Hürden für Arbeitnehmerproteste hoch gelegt. Dennoch protestieren in Budapest sämtliche Gewerkschaftsverbände seit Monaten gegen die Einschränkung demokratischer Rechte. Auch der Europäische Gewerkschaftsbund kritisiert, dass es unter der Orbán-Regierung „keinen sinnhaften sozialen Dialog mehr gibt“.
Unbefristet außer Kraft gesetzt
Auch in Polen, wo kein Notstand ausgerufen wurde, setzte die nationalkonservative Regierung zahlreiche neue Bestimmungen durch, mit denen die Rechte der Beschäftigten eingeschränkt werden – allen Protesten der großen Gewerkschaftsverbände wie Solidarność und OPZZ zum Trotz. Diverse gesetzliche Garantien – etwa gegen Kündigung oder Gehaltskürzungen – wurden gelockert oder außer Kraft gesetzt, auch im öffentlichen Sektor. Besorgniserregend erscheint vor allem, dass oft keine zeitliche Frist für die Beendigung der Maßnahmen festgesetzt wurde. Sie könnten nach dem Ende der Corona-Krise beliebig verlängert werden, etwa mit der Begründung, dass die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und die Überschuldung des Staates nur so wirksam zu bekämpfen sind.
In Rumänien prägt der Regierungskurs die Verhandlungen mit Arbeitnehmervertretungen. Die bürgerliche Minderheitsregierung unter Ministerpräsident Ludovic Orban lehnt den Dialog ab – mit Hinweis auf die Verluste der Unternehmen, auf das nach Ansicht von Staatspräsident Klaus Johannis „nötige Opfer“ für den wirtschaftlichen Neustart sowie auf die „verantwortungslosen“ Mindestlohn- und Rentenerhöhungen, die von den bis zum vorigen Jahr regierenden Sozialdemokraten durchgesetzt wurden.
Klar scheint: Die neoliberale Ideologie, die in den 1990er Jahren die Transformation Osteuropas von der Plan- zur Marktwirtschaft begleitete, nimmt zusehends autoritäre Gestalt an.