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Magazin Mitbestimmung

Europa-Debatte: Autoritär und unsozial

Ausgabe 09/2012

Von der neuen europäischen Wirtschaftsregierung, die – von Brüssel aus – unterschiedliche Wettbewerbsniveaus in den EU-Mitgliedstaaten angleichen soll, hat die Arbeitnehmerseite wenig Gutes zu erwarten. Von Florian Rödl

Die Europäische Union hat im Angesicht der Krise Ende 2011 tief greifende Neuerungen zur „Economic Governance“ der Eurozone auf den Weg gebracht. Hier zeigen sich Elemente einer Wirtschaftsregierung, die aber offensichtlich nichts mit jener „europäischen Wirtschaftsregierung“ zu tun haben, die Sozialdemokratie und Gewerkschaften seit Langem einfordern und die eigentlich Schlüssel für ein sozialeres Europa sein sollte. Vielmehr handelt es sich um ein Instrument zur autoritären Demontage der Sozialstaatlichkeit: Weil die Lohnpolitik in den Mitgliedstaaten für die Erfordernisse des Euro zu unflexibel ist, müssen essenzielle Rechte von Gewerkschaften und Arbeitnehmern beschnitten werden.

Im Fokus der neuen Wirtschaftsregierung der Union stehen die makroökonomischen Ungleichgewichte in den Eurostaaten. Solche Ungleichgewichte bestimmen sich anhand von Faktoren wie Leistungsbilanzdefizit, Exportanteil, privaten und öffentlichen Schuldenständen, Hauspreisen, realen Wechselkursen oder Lohnstückkosten. In einem Mitgliedstaat besteht dann ein Ungleichgewicht, wenn etwa das Defizit der Leistungsbilanz zu groß ist, die Schulden zu hoch sind oder Lohnstückkosten zu schnell steigen. Die entstandenen Ungleichgewichte in der Union sollen künftig wirksam bekämpft werden, weil sie als ganz wesentliche Ursache der Eurokrise gelten.

DAS VERFAHREN REGIERT

Den Kern der neuen Wirtschaftsregierung bildet ein Verfahren zur Vermeidung und Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte eines Mitgliedstaates, kurz „makroökonomisches Ungleichgewichtsverfahren“ (MUV). Das MUV ist in zwei Verordnungen geregelt, die im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren unter voller Beteiligung des Europäischen Parlamentes verabschiedet wurden. Sie liefern die Grundlage für einschneidende Eingriffe seitens der Union in die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten der Eurozone. Dabei geht es um Wirtschaftspolitik in einem weiten Sinne, also unter Einschluss von Steuer-, Arbeits- und Sozialpolitik. Ziel ist es, die für den Bestand des Euro notwendigen wirtschaftlichen Anpassungsleistungen eines Mitgliedstaates frühzeitiger und im Rahmen des Unionsrechts in Gang zu setzen und nicht erst als Gegenleistung zu Rettungsschirm-Mitteln vertraglich aufzuerlegen, wenn bereits die Zahlungsunfähigkeit des betroffenen Mitgliedstaates und damit Ansteckungseffekte drohen.

Im Rahmen des makroökonomischen Ungleichgewichtsverfahrens MUV soll die Kommission jährlich die makroökonomische Situation in den einzelnen Mitgliedstaaten analysieren. Stellt sie bei einem Mitgliedstaat ein übermäßiges makroökonomisches Ungleichgewicht fest, wird ein gesondertes Verfahren eröffnet, das dem zur Überwachung der mitgliedstaatlichen Haushaltsdisziplin nachgebildet ist. Dieses „exzessive Ungleichgewichtsverfahren“ (EUV) ist sozusagen das operative Herzstück der neuen Wirtschaftsregierung.

Dem betroffenen Mitgliedstaat wird vom Ministerrat unter inhaltlicher Federführung der Kommission zunächst ein Maßnahmenplan zur Korrektur des übermäßigen Ungleichgewichts vorgegeben. Dieser Maßnahmenplan ist zwar an sich unverbindlich. Die große Neuerung ist aber, dass ein Mitgliedstaat der Eurozone gleichwohl mit Geldbußen belegt werden kann, wenn er die Vorgaben nicht umsetzt. Dies ungeachtet dessen, ob die Union in den Politikbereichen, auf die sich ihre Vorgaben beziehen, eine eigene Rechtssetzungskompetenz hat. Keine Kompetenz hat die Union namentlich in den Kernbereichen mitgliedstaatlicher Arbeits- und Sozialpolitik, im kollektiven Arbeitsrecht und dem Recht der sozialen Sicherheit. Künftig aber soll die Union auf Grundlage der EUV nun auch in diesen Bereichen steuern können, sofern dies aufgrund von makroökonomischen Ungleichgewichtslagen erforderlich wird.

KLARER KOMPETENZVERSTOSS

Dies ist aber von den Kompetenzgrundlagen der Unionsverträge nicht gedeckt, weil diese der Union nur eine Koordinierung und keine Regulierung der mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitik erlauben. Die Regelungen zum exzessiven Ungleichgewichtsverfahren reihen sich damit ein in eine ganze Reihe von Notstandsmaßnahmen, die das Krisenhandeln der Union insgesamt prägen. Doch scheint im Angesicht der Krise niemand diesen Notstandsmodus infrage stellen zu wollen. Das ist umso bedenklicher, als diese Wirtschaftsregierung in der Grundtendenz autoritär und unsozial wirken wird.

Warum autoritär? Die Wirtschaftsregierung entlang der EUV besteht letztlich darin, die demokratische Politik in den Mitgliedstaaten der Aufsicht durch die EU-Kommission in Brüssel zu unterstellen. Die mitgliedstaatliche Politik wird durch Weisungen korrigiert, wenn die Ergebnisse der demokratischen Prozesse in einem Mitgliedstaat nicht den Erfordernissen entsprechen, die sich aus der einheitlichen Euro-Währung ergeben.
Diese neue Kontrolle mitgliedstaatlicher Politik ist etwas ganz anderes als die generelle Anforderung an die Mitgliedstaaten, sich an das auf europäischer Ebene gesetzte Recht zu halten. Das europäische Gesetzesrecht ergeht auf der Basis formell übertragener und klar definierter Kompetenzen, es ergeht einheitlich für alle Mitgliedstaaten, und es ergeht zumindest regelmäßig unter relevanter Beteiligung des Europäischen Parlaments. Die Weisungen beim exzessiven Ungleichgewichtsverfahren sind hingegen durch keine Kompetenznorm begrenzt, sie ergehen nur für den jeweils betroffenen Mitgliedstaat, das Europäische Parlament hat nichts zu sagen.

Warum unsozial? Das liegt in der Architektur des Euro begründet, die ökonomisch und institutionell höchst unterschiedliche Mitgliedstaaten unter eine Währung spannt. Damit müssten die beteiligten Staaten annähernd gleiche Wettbewerbsfähigkeit aufweisen und diese auch dauerhaft im Gleichschritt halten – eine mühsam zu bewältigende Aufgabe. Sie wird zusätzlich erschwert, weil zwei wesentliche Instrumente zur Einflussnahme auf die Wettbewerbsfähigkeit, der Wechselkurs und der Zinssatz, von den Mitgliedstaaten nicht mehr passgenau eingesetzt werden können. Vielmehr wirken die einheitlichen Größen von Euro-Wechselkurs und EZB-Zinssatz regelmäßig zusätzlich störend auf die wirtschaftliche Lage des einzelnen Mitgliedstaates. Insofern scheint es fast paradox: Der Euro erfordert die wirtschaftliche Konvergenz der Mitgliedstaaten, andererseits aber treibt er sie auseinander. Eine dritte wichtige Steuerungsgröße, die Budgetpolitik, wird mit den Härtungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts, deren vorläufiger Schlussstein der Fiskalpakt (mit der Schuldenbremse) bildet, ebenfalls weitgehend stillgestellt.

Als letzte praktisch relevante Stellgröße bleibt den Mitgliedstaaten das Niveau der Lohnkosten. Denn letztlich ist keine Maßnahme so leicht verfügbar und effektiv wie der Abbau von Arbeitnehmerrechten. Wann immer also ein Mitgliedstaat zur Korrektur seiner makroökonomischen Ungleichgewichte seine Wettbewerbsfähigkeit erhöhen muss, wird er zulasten der abhängig Beschäftigten und der Gewerkschaften in Tarifvertragssysteme, Arbeitskampfordnungen und Kündigungsschutz eingreifen müssen. Genau das passiert in der aktuellen Krisenpolitik in Griechenland, Irland, Italien und Spanien. Da wird die Reichweite von Tarifverträgen eingeschränkt, der Flächentarifvertrag kann durch Vereinbarungen auf Unternehmensebene unterboten werden unter Ausgrenzung der Gewerkschaften, das Streikrecht wird beschnitten; zusätzlich wird der Kündigungsschutz demoliert.

Diese Krisenpolitiken vollziehen die Mitgliedstaaten bisher entweder als Rettungsschirm-Auflage oder (im Falle von Spanien und Italien) vorauseilend, um dem Rettungsschirm zu entgehen. Die neue europäische Wirtschaftsregierung soll keine inhaltliche Alternative zu diesen Politiken eröffnen, sie soll sie nur zeitlich vorverlagern. Das zeigt sich recht deutlich an den im Juli veröffentlichten Ergebnissen der „eingehenden Überprüfung“ der makroökonomischen Ungleichgewichte in zwölf Mitgliedstaaten, davon sieben Eurostaaten, durch die Kommission. Für die Mehrzahl der Staaten wird eine mangelnde Wettbewerbsfähigkeit aufgrund zu hoher Lohnkosten thematisiert. Italien und Spanien ernten viel Lob für ihre jüngsten „Reformen“ (die aus einer empfindlichen Schwächung von Flächentarifvertrag und Kündigungsschutz bestanden). Frankreich und Slowenien wird Zurückhaltung beim Mindestlohn und bei der tariflichen Lohnentwicklung im öffentlichen Dienst nahegelegt sowie ein Abbau des Kündigungsschutzes. Im Fall von Dänemark und Finnland werden überhöhte Lohnentwicklungen kritisiert, allerdings keine konkreten Eingriffe in die tarifliche Lohnfindung empfohlen. Anders in Belgien, wo das zentralisierte Lohnfindungssystem mit geringer Lohnspreizung nachdrücklich kritisiert und dessen Dezentralisierung gefordert wird.

EINE ANDERE WIRTSCHAFTSREGIERUNG?

Die neue europäische Wirtschaftsregierung in Gestalt der EUV ist sicher nicht die Wirtschaftsregierung, die die deutschen Gewerkschaften anstreben. Sie müsse keynesianisch ausgerichtet sein, sagen gewerkschaftsnahe Ökonomen. Das hätte etwa zur Folge, dass der strikte Sparkurs aufgegeben würde und auch die Überschussländer in den Fokus gerieten. Für Deutschland etwa müssten aus dieser Sicht sowohl drastische Lohnerhöhungen als auch die Rücknahme der Hartz-IV-Reformen angeordnet werden. Doch dieses Programm hat kaum eine Chance. Es widerspricht der für die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten seit den 80er Jahren maßgeblichen Orientierung an globaler Wettbewerbsfähigkeit. Es hat allzu mächtige Kapitalinteressen gegen sich, die von der gegenwärtigen Situation erheblich profitieren. Und es findet selbst in den Spitzen der deutschen Politik, einschließlich SPD und Grünen, keine nennenswerte Unterstützung.

Gleichwohl weiter auf ein Programm von „Eurokeynesianismus“ zu setzen, erscheint insbesondere aus gewerkschaftlicher Perspektive gewagt. Lässt es sich tatsächlich nicht durchsetzen – wofür eigentlich alles spricht –, sind die Auswirkungen ebenso gewiss wie dramatisch: die strukturelle Demontage des Kerns mitgliedstaatlicher Sozialstaatlichkeit, nämlich eines effektiven Tarifvertragssystems samt Kündigungsschutz. Denn eben diese Errungenschaften sind mit dem Fortbestand des Euro in seiner gegenwärtigen Konstruktion offenbar nicht vereinbar.

Text: Florian Rödl, Forschungsgruppenleiter am Exzellenz-Cluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität, Frankfurt/Main

Mehr Informationen

Jürgen Bast/Florian Rödl: Jenseits der Koordinierung? Zu den Grenzen der EU-Verträge für eine europäische Wirtschaftsregierung. In: Europäische Grundrechtezeitschrift, Jahrgang 39 (2012), Heft 10–12, S. 269–278 (Veröffentlichung auf der Basis eines Gutachtens im Auftrag des Hugo-Sinzheimer-Instituts der OBS, Frankfurt am Main)

Fritz Scharpf: Monetary Union, Fiscal Crisis and the Pre-emption of Democracy.

Stefan Clauwaert/Isabelle Schömann: Arbeitsrechtsreformen in Krisenzeiten: eine Bestandsaufnahme in Europa. ETUI-Working Paper 2012.04

Dokumente der Kommission zur makroökonomischen Überwachung auf Englisch 

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