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Hafenarbeiter in Hamburg vor einem Containerschiff Magazin Mitbestimmung

Logistik: Aus der Balance

Ausgabe 06/2021

Dem Stillstand vieler Liefer­ketten folgt die Warenflut. Logistikunter­nehmen steigern den Umsatz, doch die Mehrarbeit müssen die ­Beschäftigten schultern. Von Andreas Schulte

Stau vor Hamburg! Diese Warnung kennen leidgeprüfte Autofahrer auf der A7 schon seit Jahren aus dem Verkehrsfunk des NDR. Der Verkehrskollaps rund um die Metropolen in Deutschland ist ein altbekanntes Problem. Doch nach dem Ende erster Lockdowns in Asien erreicht er nun die Schifffahrt. Und so müssen mittlerweile auch Reedereien ihre Kapitäne vor Verzögerungen warnen. Nicht nur der Hamburger Hafen ist schlicht und ergreifend verstopft.

Der Grund: Die Pandemie verstopfte weltweit Transportadern. Je nach epidemischer Lage entlädt sich der Nachholbedarf schubweise. Die Lieferketten stottern – bis hinein in die Läger. Die Folge: Bewährte Logistikabläufe greifen nicht mehr. Egal ob in den Häfen, auf der Straße oder auf der Schiene. Fast überall in Deutschland ächzen Beschäftigte in der Logistik unter Mehrarbeit.

Das gilt auch für die 5000 Hafenarbeiter in Hamburg: „Die Beschäftigten im Hafen und an den Terminals arbeiten unter einer hohen Belastung, das sehen wir mancherorts auch am Krankenstand“, sagt Maya Schwiegershausen-Güth, Bundesfachgruppenleiterin Maritime Wirtschaft bei Verdi und Aufsichtsratsmitglied bei der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA). Seecontainer müssen am Terminal derzeit viel häufiger bewegt werden als unter normalen Bedingungen. Von den Beschäftigten würden daher nun deutlich flexiblere Arbeitszeiten erwartet. Die Zahl der Überstunden steigt an, und in manchen Bereichen würden Arbeitskräfte über Leiharbeitsfirmen eingesetzt. „Das wollen wir natürlich verhindern“, sagt die Gewerkschafterin.

Der neue Druck trifft die Belegschaft in schwieriger Zeit, denn vor allem die zunehmende Automatisierung in den Häfen bedroht Jobs. „Viele fragen sich, warum sie sich der derzeitigen Belastung jetzt noch aussetzen sollen, da ihnen ihre Zukunft doch ohnehin ungewiss erscheint“, sagt Schwiegershausen-Güth. 

Ausgerechnet während sich die Belegschaften neuen Belastungen gegenübersehen, machen viele Logistikunternehmen gute Geschäfte. Im August dieses Jahres verkündete HHLA für das erste Halbjahr ein Gewinnplus von 63 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Zugleich will der Konzern ab dem Jahr 2025 jährliche Kosten in Höhe von 150 Millionen Euro einsparen.

Wie die Arbeitsbedingungen in den Häfen verbessert werden könnten? Für Schwiegershausen-Güth kann dies nur auf lange Sicht gelingen, denn gerade in der Seefahrt ist das Lieferkettenproblem ein internationales. „Wenn zum Beispiel in China ein Hafen wegen Corona dichtgemacht wird, bekommen wir das hier zeitverzögert zu spüren. Als Gewerkschaft haben wir natürlich auf solche Entscheidungen außerhalb Deutschlands kaum Einfluss.“ 

„Domina“-Effekt auf der Schiene

Allerdings sieht sie einen Hebel zur Verringerung der Abhängigkeit von internationalen Lieferketten in der Begrenzung des Schiffswachstums. In den vergangenen Jahren sind Containerschiffe zunehmend größer gebaut worden. „Die Pünktlichkeit der großen Schiffe war schon immer mäßig und hat sich jetzt noch einmal verschlechtert“, sagt Schwiegershausen-Güth. Fällt nur einer dieser Giganten aus, sind die Auswirkungen auf die Lieferketten enorm groß. „Dieses Risiko ließe sich durch den Einsatz mehrerer kleinerer Schiffe reduzieren.“

Die tagelangen Wartezeiten der Schiffe vor den Häfen setzen einen Dominoeffekt in Gang, der auch die nachgelagerten Lieferketten auf der Schiene und auf der Straße aus dem Takt bringt. „Ich sage dazu nicht Domino-, sondern Domina-Effekt, weil die Auswirkungen geradezu furchterregend sind“, sagt Jörg Hensel, Betriebsratsvorsitzender von DB Cargo. Die jüngsten Lieferkettenprobleme, ausgehend von den Häfen, wirkten wie Brandbeschleuniger auf die ohnehin bestehenden Probleme im Schienengüterverkehr. Denn den Unternehmen fehlt Personal, und die Infrastruktur ist in die Jahre gekommen.

Dies alles führt dazu, dass täglich Züge entweder nicht losfahren oder verspätet beim Kunden ankommen. Nur drei von vier Zügen sind pünktlich. „Auch deshalb verliert die Schiene so manchen Auftrag an Speditionen“, sagt Hensel. „Unsere Leute sind natürlich sauer. Viele sind frustriert. Die Stimmung wird immer schlechter.“ Hinzu komme psychischer Stress bei denen, die die Verspätungen gegenüber den Kunden rechtfertigen müssen.

Die Crux: Der Berg an Arbeit dürfte sogar noch anwachsen, denn DB Cargo schaffte im ersten Halbjahr 2021 bei den Transportmengen die Wende zum Wachstum und legte bei der Verkehrsleistung gegenüber dem ersten Halbjahr 2020 um 12,6 Prozent auf 43 Milliarden Tonnenkilometer zu.

Es sind die Staus vor den Häfen und steigende Frachtpreise zur See, die der Güterbahn wirtschaftlich in die Karten spielen. „Auf der Route von Asien nach Europa haben wir massiv von den Problemen der Seefracht profitiert“, sagt Hensel. Erstmals sind 2020 von den etwa 23 Millionen Containern, die zwischen China und Europa transportiert werden, über eine Million per Bahn geliefert worden. Im Coronajahr legten die Bahntransporte auf dieser Route um rund 50 Prozent zu. Hensel dringt grundsätzlich dennoch auf kürzere Lieferketten, um wieder verlässlichere Arbeitsbedingungen und mehr Unabhängigkeit der deutschen Wirtschaft herzustellen.

Dumpinglöhne für Lkw-Fahrer

Dass sein Wunsch unerhört bleiben könnte, legt indes eine Studie des Marktforschungsinstituts Ifo nahe. Von 5000 befragten Unternehmen will demnach nur jede zehnte Firma künftig vermehrt auf heimische Lieferketten setzen. Insofern dürften die Abhängigkeiten der Transportunternehmen von den weltweiten Lieferketten noch lange bestehen bleiben. Das Beratungshaus Sea-Intelligence rechnet mit einer Rückkehr zur Normalität frühestens am Ende des nächsten Jahres. 

Auf dem Transportweg Straße leiden vor allem Lkw-Fahrer unter dem Schluckauf der Lieferketten. Bei Produktionsausfällen in der Industrie etwa droht Ungemach – so wie zuletzt, als Chips aus China nicht in der hiesigen Auto­industrie ankamen. Denn bleiben Lkw länger als geplant leer, werden ihre Flächen auf Frachtbörsen zu Dumpingpreisen angeboten. „Wir haben beobachtet, dass Fahrer dann noch weniger Lohn erhalten als ohnehin üblich“, sagt Michael Wahl vom DGB-Netzwerk „Faire Mobilität“. Deutsche Unternehmen zahlen zumeist bis zu 2.200 Euro brutto, also eine Vergütung, die knapp über dem gesetzlichen Mindestlohn liegt. Fahrer mit osteuropäischen Arbeitgebern müssten für rund 500 Euro Lohn arbeiten und würden damit systematisch um ihren Anspruch auf den Mindestlohn geprellt, sagt Wahl. Längst hat die Branche ein Nachwuchsproblem, weil der Beruf vielen unattraktiv erscheint. Laut Verdi fehlen in Deutschland mehr als 80 000 Lkw-Fahrer. Jedes Jahr kommen 15 000 hinzu. Die Zahl könnte sich nun erhöhen. „Gestörte Lieferketten verschärfen die Situation“, sagt Wahl.

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