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Magazin Mitbestimmung

Große Koalition: Aus Berlin nichts Neues

Ausgabe 05/2014

Der Europakurs der neuen Regierung Merkel unterscheidet sich nur unwesentlich von dem der alten. Kritiker der Austeritätspolitik sehen ihre großen Erwartungen an eine Regierungsbeteiligung der SPD bitter enttäuscht. Von Klaus Busch

Anders als die USA hat die EU unter der hegemonialen Führung Deutschlands nach der Krise 2008/2009 sehr rasch eine harte Austeritätsstrategie eingeleitet. Während die USA aufgrund ihrer expansiven Geld- und Fiskalpolitik bald wieder positive Wachstumsraten und einen Abbau der Arbeitslosigkeit verzeichneten, hatte die Eurozone aufgrund der Sparpolitiken noch 2012 und 2013 mit einer Rezession und steigenden Arbeitslosenraten zu kämpfen.

Für die abhängig Beschäftigten hat sich die von der EU eingeschlagene Austeritätspolitik verhängnisvoll ausgewirkt. Die Arbeitslosenraten, insbesondere unter Jugendlichen, sind stark angestiegen, vor allem in den von der Sparpolitik am stärksten gebeutelten Staaten, in Irland, Griechenland, Portugal und Spanien. Die hohe Arbeitslosigkeit und die Schwächung der Gewerkschaften haben auch in der Lohn- und Einkommensentwicklung in vielen Mitgliedstaaten ihren Tribut gefordert. Im Zuge der Austeritätspolitik und der von der Troika durchgesetzten Dezentralisierung der Kollektivverhandlungssysteme ist es nicht nur in den meisten EU-Staaten zu einer Umverteilung zugunsten des Kapitals gekommen, in den Staaten Südeuropas, in Irland und vielen osteuropäischen Staaten sind darüber hinaus die Reallöhne stark abgebaut worden. Auch der Trend zu einem Rückbau des Europäischen Sozialmodells ist mit Kürzungen bei den Renten- und Gesundheitsleistungen sowie der Arbeitslosenunterstützung weiter vertieft worden.

Wegen der Führungsrolle Deutschlands in der EU und der vielen Alternativpositionen, welche die SPD im Laufe der Eurokrise gegenüber der Politik der Regierung Merkel/Westerwelle entwickelte, haben viele Kritiker der Austeritätspolitik gehofft, dass es bei einer Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten zu einem Kurswechsel in der deutschen Europapolitik kommen würde. Schließlich forderte die SPD in ihren (Wahl-)Programmen 2012 und 2013 eine gemeinsame europäische Wachstumsstrategie („European New Deal“), die Bildung einer parlamentarisch kontrollierten „gemeinsamen Wirtschaftsregierung“ und damit den Ausbau der Währungs- zur Wirtschaftsunion, eine gemeinsame europäische Haftung für die Staatsschulden, die Ergänzung der Wirtschaftsunion durch eine Sozialunion mit einer sozialen Fortschrittsklausel und einem sozialen Stabilitätspakt sowie schließlich eine fundamentale Demokratisierung der EU durch die Ausstattung des Europäischen Parlaments mit einem gesetzgeberischen Initiativrecht sowie den Ausbau der EU-Kommission zur Regierung.

ALLES BEIM ALTEN

In den Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU mussten die Sozialdemokraten jedoch erhebliche Abstriche hinnehmen, während überwiegend die Positionen der alten Merkel/Schäuble-Politik übernommen wurden. Die Forderung nach einer „gemeinsamen Wirtschaftsregierung“ kommt im Koalitionsvertrag nicht vor. Zwar wird von den Konstruktionsmängeln der Wirtschafts- und Währungsunion gesprochen, doch diese sollen durch eine „verbindlichere Koordinierung“ der Wirtschaftspolitik und eine „effektivere Haushaltspolitik“ überwunden werden, „um Wettbewerbsfähigkeit, Finanzstabilität, die Möglichkeit zu Zukunftsinvestitionen und sozialen Ausgleich dauerhaft erfolgreich zu verbinden“, wie es im Koalitionsvertrag heißt. Die rhetorische Figur, die Wettbewerbsfähigkeit, Finanzstabilität, Zukunftsinvestitionen und sozialen Ausgleich miteinander verknüpft, zieht sich wie ein roter Faden durch den Vertrag. Sucht man im Koalitionsvertrag jedoch nach neuen Instrumenten, mit deren Hilfe diese Ziele verwirklicht werden sollen, dann findet man vor allem den Werkzeugkasten der alten Regierung Merkel. Es wird ein Bekenntnis zum gestärkten Stabilitäts- und Wachstumspakt und zur Haushaltsüberwachung durch die Twopack-Verordnungen abgegeben – also zu den Reformen aus den Jahren 2010 bis 2013. Darüber hinaus wird die seit 2012 von der alten Regierung vorgetragene Forderung nach einem Wettbewerbspakt für Strukturreformen und Konvergenz unterstützt. Dieser sieht vor, dass sich die Mitgliedstaaten in bilateralen vertraglichen Vereinbarungen mit der Kommission verpflichten, Strukturreformen wie beispielsweise Arbeitsmarkt- und Rentenreformen durchzuführen. Kritiker wie Lukas Oberndorfer von der Arbeiterkammer Wien bezeichnen dieses Konzept als „Troika für alle“, und unter den Mitgliedstaaten stößt es auf breite Ablehnung. 

Auch im Hinblick auf Hilfskredite für die Krisenstaaten bleibt im Koalitionsvertrag alles beim Alten. „Das Prinzip, dass jeder Mitgliedstaat für seine Verbindlichkeiten selbst haftet, muss erhalten werden“, fordert der Koalitionsvertrag. Außerdem dürften die Kredite nur „im Gegenzug zu strikten Auflagen bzw. Reformen und Konsolidierungsmaßnahmen der Empfängerländer gewährt werden“. Wo bleibt da die SPD-Forderung nach der „gemeinsamen Haftung“, die nach der Verabschiedung des Fiskalvertrages möglich sein sollte, wo bleibt die Kritik an der „kaltherzigen“ Troikapolitik, wo die Forderung nach einer Alternative zur Austeritätspolitik? Hier kommen die Begriffe „Zukunftsinvestitionen“, „Wachstum“ und „Innovation“ ins Spiel, die im Vertrag auf fast jeder Seite bemüht werden. Doch nicht ein „New Deal“ für Europa, ein Marshallplan, wie ihn die Gewerkschaften fordern, ist das Instrument zur Realisierung der Zukunftsinvestitionen, sondern der Ladenhüter „Pakt für Wachstum und Beschäftigung“ aus dem Sommer 2012, der nun „mit Nachdruck“ umgesetzt werden soll, obwohl sich die europäischen Sozialisten mit diesem Pakt wegen seiner geringen makroökonomischen Relevanz bereits 2012 und 2013 blamiert haben, wie der Ökonom Sebastian Dullien analysiert hat.

KAUM LICHTBLICKE

Auch in Bezug auf die Frage, was im Koalitionsvertrag aus den Forderungen der SPD nach einer sozialen Fortschrittsklausel und dem sozialen Stabilitätspakt geworden ist, gibt es nur Fehlanzeigen. Die Fortschrittsklausel, die im Primärrecht den Vorrang der sozialen Grundrechte gegenüber den Marktfreiheiten verwirklichen sollte, wird im Vertrag zur Gleichrangigkeit beider Rechtssphären herabgestuft, wobei sich die Frage stellt, wie dies juristisch umgesetzt werden soll. Und der soziale Stabilitätspakt, mit welchem die Sozialausgaben der Staaten an ihre ökonomische Leistungsfähigkeit gekoppelt werden sollen, ist gänzlich untergetaucht. Der Vertrag feiert stattdessen die 2013 von der EU-Kommission vorgeschlagenen „Sozialindikatoren“ als „EU-Fortschrittsanzeiger“ (Scoreboard), obwohl diese Indikatoren nichts Weiteres ermöglichen als eine „vertiefte“ Analyse der sozialen Ungleichgewichte in der EU (Arbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit, Armut, Einkommensungleichheit). Sozialkommissar Andor wollte diese Indikatoren ursprünglich in einem progressiven Konzept mit exakt definierten, verbindlichen Instrumenten verknüpfen, die der Bekämpfung der sozialen Ungleichgewichte dienen sollten. Das von diesen Plänen übrig gebliebene Scoreboard ist jedoch nicht mehr als eine Blendfassade, die den Eindruck vermitteln soll, dass hiermit die viel geforderte Vertiefung der sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion erreicht wird. In Wirklichkeit werden damit jedoch die sozialen Probleme bestenfalls analysiert, nicht aber bekämpft, und damit klafft auch in diesem Feld zwischen dem Wahlprogramm der SPD und dem Koalitionsvertrag eine große Kluft. 

Es ist ferner nicht zu erkennen, dass die neue Regierung entscheidende Schwächen der Wirtschaftspolitik der alten Regierung überwinden wird. Der Beitrag aller Vorhaben der Großen Koalition zur Belebung der Binnennachfrage dürfte sehr gering ausfallen. Insbesondere das große Manko der deutschen Wirtschaftspolitik, die im europäischen Vergleich unterdurchschnittliche öffentliche Investitionsquote, korrigiert die Große Koalition nur dürftig, indem sie jährlich zusätzliche Gelder für öffentliche Investitionen in Höhe von nur sechs Milliarden Euro zur Verfügung stellt. Dieses Investitionsprogramm trägt damit äußerst wenig zur Entlastung der großen Leistungsbilanzdefizite­ der europäischen Partnerländer Deutschlands bei, da es das deutsche Wirtschaftswachstum nur geringfügig ankurbeln wird. 

Ein kleiner Lichtblick: Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ist für Deutschland ein arbeitsmarktpolitischer Fortschritt, wenn auch von einem flächendeckenden Mindestlohn nach den Ausnahmen für Jugendliche, Langzeitarbeitslose und etliche Praktikanten nicht mehr gesprochen werden kann. Im Übrigen handelt es sich eher um einen Normalisierungsprozess, denn die meisten EU-Staaten verfügen bereits über einen gesetzlichen Mindestlohn. 

WEDER VOR NOCH ZURÜCK

Die großen Erwartungen, die insbesondere in Südeuropa in eine Regierungsbeteiligung der SPD in Deutschland gesetzt wurden, sind damit bitter enttäuscht worden. Der Europakurs der alten und der neuen Regierung Merkel unterscheidet sich in den wesentlichen Punkten nicht. Weder in der Frage einer europäischen Wachstums- und Beschäftigungspolitik noch der gemeinsamen Schuldenhaftung (Eurobonds, Schuldentilgungsfonds) oder einer expansiveren deutschen Wirtschaftspolitik zur Entlastung der Leistungsbilanzen der Defizitländer gibt es einen Politikwechsel. Schlimmer noch: Auch die strukturellen Mängel der Eurozone werden durch die neue Regierung nicht in den Blick genommen, obwohl in den Grundsatzpapieren der Europäischen Kommission und des Präsidenten des Europäischen Rats dazu bereits 2012 sehr gute Vorschläge vorgelegt wurden. Ohne die Einbettung des Euro in eine echte politische Union, ohne eine demokratisch kontrollierte gemeinsame Wirtschaftsregierung wird die Eurozone letztlich keine dauerhafte Stabilität erlangen können. Und ohne die Aufhebung des Systems der Wettbewerbsstaaten durch eine europäische Koordinierung der Lohn- und Sozialpolitiken werden die Dumpingpraktiken in der Eurozone nicht beseitigt werden. 

Die Hegemonialmacht Deutschland hat kein Konzept, wie die EU ihre strukturelle Integrationskrise überwinden kann. Der Weg nach vorne, der eine Vertiefung der Integration in den genannten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereichen bedeuten würde, ist angesichts der in vielen Mitgliedstaaten verbreiteten Renationalisierungstendenzen versperrt. Der Weg zurück, der die Auflösung der Eurozone und die Wiedereinführung nationaler Währungen beinhaltet, würde in Südeuropa, aber auch in Deutschland wegen der ökonomischen Anpassungsprozesse eine weitere große Wachstums- und Beschäftigungskrise mit sich bringen und am Ende nicht nur die Eurozone, sondern auch den Binnenmarkt zu Fall bringen. Die EU ist damit integrationspolitisch eingekeilt, sie kann nicht nach vorne, und sie kann nicht zurück. Der Großen Koalition muss in dieser Situation historisches Versagen vorgeworfen werden, weil sie nicht einen großen Entwurf zur Überwindung dieser europäischen Stagnationskrise vorgelegt hat, sondern eher hilflos eine europäische Dauerkrise in Kauf nimmt, welche die Legitimationsprobleme der EU immer weiter vergrößern wird.

Klaus Busch ist Europawissenschaftler (i.R.) an der Universität Osnabrück und europapolitischer Berater von ver.di


Mehr Informationen

Frank Bsirske/Klaus Busch: Zurück auf Los: Die Große Koalition und die Eurokrise. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 3/14, Berlin

Frank Bsirske/Klaus Busch: A Concept for Deepening the Social Dimension of the European Union. In: Social Europe Journal, 14.8.2013

Koalitionsvertrag: Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. Berlin 2013

Herman van Rompuy/José Manuel Barroso/ Jean-Claude Juncker/ Mario Draghi: Towards a Genuine Economic and Monetary Union. Brüssel 2012

SPD: Europa muss sozial und demokratisch werden. Für eine grundlegende Reform der Europäischen Union. Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD. Berlin 2012

SPD: Das Wir entscheidet. Das Regierungsprogramm 2013–2017. Berlin 2013 

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