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Magazin Mitbestimmung

Versicherungen: Aufstand gegen den Milliarden-Deal

Ausgabe 03/2013

Die Allianz wollte die Provinzial NordWest aufkaufen. Die Übernahme hätte zum Startschuss für eine Privatisierungswelle unter den Versicherern des Sparkassenverbundes werden können. Doch die Beschäftigten haben den Milliarden-Deal verhindert – zumindest vorerst. Von Frank Biermann

Es geht nicht nur um Milliarden. Es geht um viel mehr, als sich die Vertreter der drei größten Anteilseigner der Provinzial NordWest mit Allianz-Chef Michael Diekmann zusammensetzen. Bei dem geheimen Treffen sprechen sie über einen Deal, der das gesamte Sparkassen-System neu ordnen würde. Die Allianz will den öffentlich-rechtlichen Versicherer übernehmen, um so ihr Deutschlandgeschäft aufzupolieren. Den Anteilseignern würde der Verkauf einen kurzfristigen Geldregen bescheren. Dabei verspricht die Provinzial, die den Sparkassen und damit letztlich den Kommunen gehört, langfristig gute Einnahmen. Die Kunden überweisen jedes Jahr gut drei Milliarden Euro für ihre Policen – auch weil sie nach der Finanzkrise ihr Geld lieber einer öffentlichen Versicherung anvertrauen als einem privaten Anbieter. Da es dem Unternehmen gut geht, profitieren auch die Anteilseigner: Jahrelang hat der Regionalversicherer mit Hauptsitzen in Münster und Kiel eine ordentliche Rendite gezahlt.

Die Verkaufspläne sickern zu dem Journalisten Herbert Fromme von der „Financial Times Deutschland“ durch. In seinem Bericht am 30. November 2012 nennt er auch die übrigen Teilnehmer des Geheimtreffens: Rolf Gerlach, Präsident des Sparkassenverbandes Westfalen-Lippe, Reinhard Boll, Vorstand des Sparkassen- und Giroverbandes Schleswig-Holstein, und Wolfgang Kirsch, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. 2,25 Milliarden Euro wolle die Allianz für die Provinzial NordWest zahlen. Zwar bestätigt offiziell keiner der Teilnehmer das Treffen, aber dementieren will es auch keiner.

Für die Beschäftigten ist die Nachricht ein Schock: Ein Global Player mit 140 000 Mitarbeitern will ihr Unternehmen schlucken. Die Provinzial NordWest hat etwa 3000 Mitarbeiter in den Verwaltungen in Münster und Kiel sowie in Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern. Dazu kommen noch einmal etwa genauso viele Beschäftigte in den selbstständigen Geschäftsstellen. Sie alle müssten bei einer Übernahme nach Einschätzung von Frank Fassin, Fachbereichsleiter Finanzen im ver.di-Landesbezirk NRW, um ihren Job bangen: „Es werden zwar nicht alle auf einen Schlag ihren Job verlieren, aber auf lange Sicht braucht so ein großer Player wie die Allianz die Beschäftigten der Provinzial nicht.“ Sondern nur die Kunden. „Von der Provinzial bliebe auf lange Sicht nicht viel übrig“, schätzt der Gewerkschafter. Allein in Westfalen seien über 4000 Arbeitsplätze gefährdet.

Klar, dass die Provinzial-Beschäftigten auf den schnell zeitgleich in Münster, Kiel und Hamburg einberufenen Betriebsversammlungen eine Menge Fragen an ihre Vorstände haben. Doch in Münster fehlt ein wichtiger Mann: Konzernchef Ulrich Rüther. Auf dem Weg von der Tiefgarage zu seinem Büro sei er von einem vermummten Unbekannten angegriffen und zweimal mit einem Schraubenzieher in die Brust gestochen worden, heißt es. Nur wenige Tage später stellt sich allerdings heraus: Das Attentat war vorgetäuscht. Rüther, das vermeintliche Opfer, räumt ein, er habe sich die Stiche selbst zugefügt. Die Polizei sucht nun nicht mehr den unbekannten Täter, sondern ermittelt gegen den Vorstandschef wegen Vortäuschung einer Straftat. Für die Beschäftigten ist das vermeintliche Attentat der zweite große Schock innerhalb von nur einer Woche.

Direkt nach den Betriebsversammlungen formiert sich an allen Standorten der Widerstand: In Kiel und Hamburg gehen die Beschäftigten spontan auf die Straße, um gegen den Milliarden-Deal zu demonstrieren. In Münster entsteht die Idee eines permanenten Infostands. Rasch stehen solche Stände fast überall dort, wo es eine der 500 Geschäftsstellen der Provinzial NordWest gibt. Zudem legen die Beschäftigten des Konzerns Unterschriftenlisten gegen den Verkauf aus – ob im Theater, beim Bäcker oder in der Arztpraxis. Auch online werben sie um Unterzeichner, gründen eine Facebook-Gruppe, die schnell mehr als 20 000 Unterstützer findet. Dem kann sich auch die Politik nicht länger verschließen.

So bezeichnet etwa Markus Lewe (CDU), Oberbürgermeister von Münster, in einem Telefongespräch mit dem Gesamtbetriebsratsvorsitzenden Albert Roer die Aktionen der Belegschaft als „politischen Tsunami“, gegen den man „sich als Politiker nicht stellen“ könne. Der Arbeitnehmervertreter kennt das. „Politiker reagieren eben nur auf öffentlichen Druck“, sagt Roer, der auch seine Kontakte spielen ließ. Viele Jahre war er für die CDA, den Arbeitnehmerflügel der CDU, auf Landes- und Bundesebene aktiv. „Die Beschäftigten haben beherzt für ihre berufliche Existenz und ihr Unternehmen gekämpft“, resümiert er, „und die gesamten Regionen um ein Stück ihrer Identität. Das hat unserem Widerstand diesen unglaublichen Rückenwind gegeben.“ Auch Frank Fassin, wie Roer Mitglied des Provinzial- Aufsichtsrats, kann im Rückblick den Erfolg kaum fassen: „Das Unternehmen stand vor einem so großen Deal, der uns zwergenhaft erscheinen lassen musste“, sagt er. „Und der Vorfall mit Rüther hat uns aus den Socken gehauen. Trotzdem ist es uns auf den Betriebsversammlungen gelungen, den Moment zu nutzen. Jeder Beschäftigte im Konzern wurde zu einem Aktionszentrum.“

GROSSDEMOS ZEIGEN WIRKUNG

Gewerkschaft und Belegschaft präsentieren die ganze Wucht des Widerstandes: In Kiel zeigt das Thermometer am 12. Dezember morgens ums 7.30 Uhr 15 Grad minus. Die gut 2000 Demonstranten wissen, warum sie gekommen sind. Um 10 Uhr tagt der Sparkassen- und Giroverband Schleswig-Holstein. Der wichtigste Tagesordnungspunkt: der Verkauf der Provinzial. Bis auf die FDP sind alle Landtagsfraktionen mit ihren Vorsitzenden vor Ort präsent. Auch im Norden haben die Beschäftigten von Beginn an die Politik gegen den Verlauf mobilisiert. Als Erster ist SPD-Fraktionschef Ralf Stegner in den Kampf eingestiegen. Zwei Tage später protestieren mehr als 5000 Münsteraner vor dem Landschaftsverband, einem der Anteilseigner, gegen den Verkauf. Rund 190 000 gesammelte Unterschriften türmen sich in Kartons zu einem großen Stapel vor der Bühne. NRW-Arbeitsminister Guntram Schneider (SPD) und der CDU-Fraktionschef im NRW-Landtag, Karl-Josef Laumann, überbieten sich in der Verurteilung der bekannt gewordenen Verkaufsabsichten. „Gerlach raus!“, rufen die Demonstranten. Gemeint ist Rolf Gerlach, Präsident des Sparkassenverbandes Westfalen-Lippe, der als Strippenzieher des Deals gilt.

Der Protest an allen Standorten beeindruckt die Eigentümer: In seiner Sitzung spricht sich zuerst der Sparkassen- und Giroverband Schleswig-Holstein gegen den Verkauf seiner Anteile (18 Prozent) aus. Ihm folgt der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (40 Prozent). Der Verkauf ist damit vom Tisch – mit einer Einschränkung. Der Sparkassenverband Westfalen-Lippe (40 Prozent) begrüßt lediglich die Initiative der NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), die die Provinzial NordWest und die Provinzial Rheinland aufgefordert hat, bis zum 31. März 2013 über Möglichkeiten einer Fusion zu verhandeln. Bis dahin, so der Sparkassenverband, würden die Verhandlungen mit anderen Interessenten „ausgesetzt“.

Weder ver.di noch die Betriebsräte der Provinzial sind darüber besonders glücklich. „Ich vermisse eine klare und eindeutige Positionierung der Ministerpräsidentin pro Provinzial und zum öffentlich-rechtlichen Finanzverbund“, sagt Roer. „Die Provinzial NordWest ist ein wichtiger Dominostein. Wenn der fällt, wird der gesamte Sparkassen-Finanzverbund infrage gestellt.“ Dabei habe gerade die Finanzkrise gezeigt, wie wichtig die Sparkassen für ein stabiles Finanzsystem sind. Für Roer, der 1977 zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt wurde, ist auch deshalb klar: „Entspannt zurücklehnen werden wir uns nicht. Die Belegschaft steht zusammen, weiß, dass sie durch solidarisches Handeln viel erreichen kann“, sagt er. „Den Eigentümern muss klar sein, dass wir in der Lage sind, solch eine Aktion jederzeit wiederzubeleben.“

Geführt werden die Fusionsgespräche übrigens von Vorstandschef Rüther. Das Strafverfahren gegen ihn wurde inzwischen eingestellt. Die Motive für seine Selbstverletzung bleiben unklar. Doch er hat sich bei der Belegschaft entschuldigt, genießt weiter das Vertrauen des Aufsichtsrats und des Betriebsrats. „Wir brauchen ihn dringend in dieser Situation“, sagt Roer, „und wir haben Herrn Rüther über die Jahre als jemanden erlebt, mit dem wir gut und vertrauensvoll zusammenarbeiten können – bei klarer Wahrnehmung der jeweiligen Rollen.“ Die nächste Feuerprobe wartet im April. 

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