Aufsichtsratsporträt: Auf der richtigen Seite
Anja Weusthoff vertritt den DGB im Aufsichtsrat bei Arcelormittal Eisenhüttenstadt. Von Martin Kaluza
Anja Weusthoff wuchs im Ruhrgebiet auf und erlebte schon früh, was der Strukturwandel in einer Region für die Menschen vor Ort bedeutet. „Mein Großvater hat noch auf der Zeche gearbeitet und ging mit deren Schließung in Rente“, sagt Weusthoff. Seit 2013 ist sie Aufsichtsrätin bei Arcelormittal Eisenhüttenstadt. Auch das Stahlwerk hat einen schmerzhaften Wandel durchgemacht. Zu DDR-Zeiten bot es 12 000 Menschen Arbeit, heute sind es nur noch rund 2700. „Was das Werk für Eisenhüttenstadt bedeutet, kann man gar nicht überschätzen“, sagt sie. „Die Stadt wurde vor 75 Jahren für das Stahlwerk gebaut.“
Der nächste Umbruch steht bereits vor der Tür: Derzeit beschäftigt das Unternehmen kaum ein Thema mehr als die Umstellung auf „grünen Stahl“. Am Standort Eisenhüttenstadt sollen Elektrolichtbogenöfen zum Einsatz kommen, um durch die Erhöhung des Schrottanteils die Roheisenproduktion reduzieren zu können. Darin liege eine große Herausforderung für alle Beteiligten, erklärt Weusthoff: „Wenn alles optimal läuft, beherrschen die Beschäftigten am Schluss völlig neue Prozesse und Herstellungsverfahren.“
Dass Weusthoff einmal nah an der Politik arbeiten würde, war schon früh ihr Ziel. „Der Sturz der Regierung Schmidt im Herbst 1982 war der Anstoß“, erinnert sie sich. „Die FDP wandte sich von der SPD ab und ebnete Helmut Kohl den Weg ins Kanzleramt. Ich habe alle Debatten im Fernsehen verfolgt und war entsetzt über seine Idee einer ‚geistig-moralischen Wende‘.“
Als Weusthoff das Abitur ablegte, fragte ihre Mutter zweimal nach, ob sie wirklich Politikwissenschaft studieren wolle, und begleitete sie zur Berufsberatung. „Weil ich danach immer noch fest entschlossen war, haben mich meine Eltern voll unterstützt“, sagt Weusthoff. Der Vater war Schlossmacher, die Mutter Bäckereifachverkäuferin in Teilzeit, und die Tochter war die Erste in der Familie, die studierte.
Mit dem Abschluss in der Tasche arbeitete Weusthoff in Bonn in der Abteilung Organisation für den SPD-Parteivorstand. Nach sieben Jahren zog es sie weiter nach Berlin. Eine kurze Episode blieb ihr Ausflug ins Metier der Unternehmensberatung. „Als mir ein Geschäftsführer stolz erzählte, wie er seinen Betriebsrat über den Tisch gezogen hat, wusste ich: Anja, du bist hier auf der falschen Seite!“ Die richtige Seite, das waren die Gewerkschaften.
Zwölf Jahre arbeitete Anja Weusthoff für die Gewerkschaft der Polizei, wechselte dann zum DGB in die Bundesvorstandsverwaltung, wo sie aktuell die Abteilung Frauen, Gleichstellungs- und Familienpolitik leitet. Mit ihrer Wahl zur Aufsichtsrätin bei Arcelormittal Eisenhüttenstadt löste Anja Weusthoff den DGB-Bezirksvorsitzenden von Berlin-Brandenburg ab, als er in den Ruhestand ging. Eine Frau ersetzte einen Mann – genauso war es vom DGB gewollt. Im Unternehmen allerdings könnte der Frauenanteil höher sein. Derzeit machen Frauen nur 17 Prozent der Belegschaft aus, zu DDR-Zeiten waren es einmal über 30 Prozent. „Dabei sind die Arbeitsbedingungen prima“, sagt Weusthoff. Dazu zählt auch der geltende IG-Metall-Tarifvertrag, der unter anderem eine reguläre Wochenarbeitszeit von 35 Stunden vorsieht.
Bei der Umstellung auf grünen Stahl wünscht sich die Aufsichtsrätin mehr Tempo. „Im letzten Mai überbrachte Wirtschaftsminister Habeck persönlich den Förderbescheid“, sagt Weusthoff. „Aber die Investitionen lassen auf
sich warten.“ Dabei ist es an der Zeit, das Personal weiterzubilden und aufzubauen, schließlich bringt die Transformation neue Tätigkeiten und Berufe mit sich. „Das Zögern“, sagt Weusthoff, „setzt auch die Betriebsräte unter Druck, die den Wandel gestalten wollen.“