Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungTarifpolitik: Arbeitszeittrends 1980–2020
Regelungen zur Arbeitszeit sind immer umkämpft. Was sind die wichtigsten Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte, und worum geht es aktuell? Von Reinhard Bispinck, Leiter des WSI-Tarifarchivs in der Hans-Böckler-Stiftung
Kürzere und flexiblere Arbeitszeiten
Die 1980er Jahre waren geprägt von den Auseinandersetzungen um die Verkürzung der tariflichen Wochenarbeitszeit. Nach mehrwöchigen Streiks gelang die Einführung der 35-Stunden-Woche, allerdings nur in einigen Branchen wie der Metall-, Druck- und Holzindustrie. Es dauerte rund zehn Jahre, bis die letzte Stufe der Verkürzung auch realisiert war. In vielen anderen Branchen konnte die Wochenarbeitszeit zumindest um zwei bis drei Stunden reduziert werden. Gesamtwirtschaftlich ging die tarifliche Wochenarbeitszeit auf aktuell 37,5 Stunden zurück.
Die Verkürzung der Wochenarbeitszeit hatte ihren Preis: Die tariflichen Spielräume zur Flexibilisierung wurden extrem ausgebaut. Die Arbeitszeit konnte durch sogenannte „Arbeitszeitkorridore“ über einen langen Zeitraum unregelmäßig verteilt werden. Zeitkonten breiteten sich aus. Die Arbeitszeit war je nach Beschäftigtengruppe unterschiedlich. Die Tarifstandards wurden in den Betrieben angepasst. Maßgabe waren die betrieblichen Anforderungen, weniger die Bedürfnisse der Beschäftigten. In den 2000er Jahren scheiterten weitere Versuche der Arbeitszeitverkürzung, teilweise wurden die Arbeitszeiten sogar wieder verlängert.
Beschäftigungssicherung in der Krise
Die weltweite Rezession der Jahre 1992/93 rückte das Thema Beschäftigungssicherung in den Vordergrund. Die tarifvertragliche Einführung der Vier-Tage-Woche bei Volkswagen zur Sicherung von 30 000 Arbeitsplätzen im Jahr 1993 hatte eine Beispielfunktion: In zahlreichen Branchentarifverträgen vereinbarten die Tarifparteien in der Folge die Möglichkeit von befristeter Absenkung der Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich bei Ausschluss betrieblicher Kündigungen. In der Finanzkrise 2008/09 trugen diese Regelungen maßgeblich zur Stabilisierung der Beschäftigung bei.
Versuche, Teilzeitarbeit zu regulieren
Die tarifliche Regulierung der Arbeitszeit zielte auch auf bestimmte Arbeitsverhältnisse, so etwa auf Teilzeitarbeit. So bestanden in manchen Branchen, etwa im Einzelhandel, Vorschriften für eine tägliche oder wöchentliche Mindestarbeitszeit, um einer Zerstückelung von Teilzeitarbeit entgegenzuwirken. In der Praxis liefen solche Bemühungen aber nicht zuletzt wegen tarifvertraglich zugelassener Ausnahmen ins Leere.
Eigene Qualifizierungs- und Bildungszeiten
Die Tarifverträge zur Qualifizierung und Weiterbildung beinhalten in einigen Fällen ebenfalls Arbeitszeitregelungen. So haben in der Metallindustrie Baden-Württemberg die Beschäftigten seit 2012 einen Anspruch auf eine unbezahlte Freistellung zur persönlichen beruflichen Weiterbildung von bis zu fünf Jahren. In der laufenden Tarifrunde verhandelt die IG Metall über ein Modell einer tariflichen Bildungsteilzeit mit einer Teilfinanzierung durch den Arbeitgeber. Ein Vorschlag: Zwei Jahre arbeitet der Mitarbeiter normal weiter und bezieht 80 Prozent seines Nettolohns. Anschließend wird er bei gleichem Gehalt für zwei Jahre freigestellt, um sich weiterbilden zu können. Alternativ wäre denkbar, die Arbeitszeit vier Jahre lang zu halbieren und die andere Hälfte der Zeit für Bildung zu nutzen.
Regeln zu Demografie und Lebensarbeitszeit
Die Tarifparteien haben seit den 1980er Jahren die gesetzlichen Regelungen zum Vorruhestand und zur Altersteilzeit mit Tarifverträgen begleitet. Der Übergang in die Rente und andere Fragen der Lebensarbeitszeit sind seit einigen Jahren auch Gegenstand von Demografietarifverträgen in der Stahl-, Chemie- oder Kautschukindustrie und bei Unternehmen wie der Deutschen Bahn AG. In der chemischen Industrie sieht der Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ beispielsweise betriebliche Demografiefonds vor, die von den Arbeitgebern finanziert werden. Sie können unter anderem für Langzeitkonten, Altersteilzeit oder eine lebensphasenorientierte Arbeitszeitgestaltung, zum Beispiel für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, genutzt werden. In der aktuellen Tarifrunde 2015 will die IG BCE auch über Modelle einer Drei-Tage-Woche für ältere Beschäftigte verhandeln.
Kurze Vollzeit, neue Geschlechterrollen
In jüngster Zeit hat es neue arbeitszeitpolitische Diskussionsanstöße gegeben. Vor allem die Arbeitszeitgestaltung im Lebensverlauf und die Geschlechterdimension spielen dabei eine wichtige Rolle. Wie können bezahlte Erwerbs- und unbezahlte Pflege- und Familienarbeit zwischen Männern und Frauen fairer verteilt werden? Die „kurze Vollzeit“ von 30 Stunden als arbeitszeitpolitische Perspektive könnte die tarifpolitische Diskussion neu beleben. Ein Ausblick auf 2020?
MEHR INFORMATIONEN
Nadine Absenger/Elke Ahlers/Reinhard Bispinck/Alfred Kleinknecht/Christina Klenner/Yvonne Lott/Toralf Pusch/Hartmut Seifert: Arbeitszeiten in Deutschland. Entwicklungstendenzen und Herausforderungen für eine moderne Arbeitszeitpolitik. WSI-Report 19, Düsseldorf 2014
WSI-Tarifarchiv (Hrsg.): WSI-Arbeitszeitkalender 2014. Tarifdaten aus 25 Wirtschaftszweigen. Elemente qualitativer Tarifpolitik, Nr. 78. Düsseldorf, WSI-Tarifarchiv 2014
WSI-Tarifarchiv (Hrsg.): Tarifliche Arbeitszeitregelungen zwischen betrieblichen Flexi-Ansprüchen und individuellen Arbeitszeitoptionen. Elemente qualitativer Tarifpolitik, Nr. 79. Düsseldorf, WSI-Tarifarchiv 2014
Dokumentation des WSI-HERBSTFORUMS: Arbeitszeiten der Zukunft: selbstbestimmt, geschlechtergerecht, nachhaltig! vom November 2014