Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Arbeitsplätze im Zangengriff
ENERGIEINTENSIVE INDUSTRIEN Strom ist teuer, die Rohstoffpreise steigen. Das bringt ganze Branchen in Bedrängnis, wie das Beispiel der Papierfabrik M-real-Zanders GmbH in Bergisch Gladbach zeigt.
Von Stefan Scheytt. Der Autor arbeitet als Journalist in Tübingen.
Existenzgefährdung. Das Wort zieht sich wie ein roter Faden durchs Gespräch, und es steht zigfach auf den Präsentationen, die Frank Eschenauer und Helmut Sobottka mitgebracht haben. Frank Eschenauer ist Gesamtbetriebsratsvorsitzender der Papierfabrik M-real Zanders in Bergisch Gladbach bei Köln, Helmut Sobottka ihr oberster Energiefachmann. Sie sitzen im Betriebsratszimmer, draußen auf dem Hof sieht man eine ausrangierte Dampflok, die an "alte Zeiten" erinnert, als die Papierindustrie noch richtig Geld verdiente. "Existenzgefährdung": In wirtschaftspolitischen Debatten ist das Wort oft schnell zur Hand, im Fall von Frank Eschenauers und Helmut Sobottkas Papierfabrik gibt es kein besseres, um die Lage zu beschreiben.
DIE BRANCHE BOOMT UND KRISELT ZUGLEICH_ Die M-real Zanders GmbH steckt - wie die meisten Papierhersteller in Deutschland - in einer Zange, die gleich von drei Seiten zudrückt: Auf der Ausgabenseite steigen die Energie- und die Zellstoffpreise, auf der Einnahmeseite sanken die Papierpreise jahrelang. Die Branche befindet sich in der ungewöhnlichen Situation, dass sie zugleich boomt und kriselt: Dank starker Nachfrage produziert sie Jahr für Jahr mehr Tonnen Papier, aber die Margen schrumpfen - und mit ihnen die Belegschaften. Allein bei Zanders ist die Zahl der Mitarbeiter seit Mitte der 90er Jahre von 4000 auf 1500 Mitarbeiter gefallen. "Man fragt sich, wo das Ende dieser Entwicklung sein soll", sagt Betriebsrat Eschenauer.
In den Charts von Helmut Sobottka jedenfalls ist ein Ende der Energiepreisentwicklung kaum auszumachen. Dort kennen die Kurven des Strompreises seit Jahren nur eine Richtung - nach oben. "Zwischen 2001 und heute ist der Preis für Strom um rund 150 Prozent gestiegen, obwohl die Erzeugungskosten im selben Zeitraum nur moderat um 25 Prozent nach oben gingen", weiß Sobottka. Allein der Anstieg des Strompreises hat bei Zanders seit 2001 mit Mehrkosten von 13,5 Millionen Euro zu Buche geschlagen, "das entspricht etwa 300 Arbeitsplätzen", rechnet Sobottka vor. Beim Strombezug bestehe nun mal keine Elastizität - "Strom müssen wir auch bei hohen Börsenpreisen am Spotmarkt ziehen, um unser Papier produzieren zu können."
Helmut Sobottka trägt den Titel "Direktor Corporate Energy Central Europe", er kennt sich aus im Geschäft, er weiß, was es kostet, Strom zu erzeugen und zu verteilen. Er weiß es nicht zuletzt deshalb, weil die Papierfabrik Zanders ihre Energie zum größten Teil selbst produziert; aus dem werkseigenen Kraftwerk kommen 100 Prozent der Wärme und rund die Hälfte des Stroms. Umso erstaunlicher, wie stark der noch einzukaufende Reststrom aufs Geschäft durchschlägt. Und umso verständlicher der Ärger bei Zanders über die Strompreisbildung. Nicht ohne Grund hat die EU Kartelluntersuchungen bei den großen Energieversorgern durchgeführt und die Leipziger Strombörse EEX wegen des kürzlich aufgekommenen Manipulationsverdachts zu mehr Transparenz aufgefordert.
"Für uns ist schon lange nicht mehr nachvollziehbar und kalkulierbar, wie die Preise dort zustande kommen", sagt Sobottka. "Sicher ist für uns aber: Die echten Erzeugungskosten der Stromkonzerne und die Preise, die sie für den Strom verlangen, haben nichts mehr miteinander zu tun, die sind völlig entkoppelt." Sobottka spricht von der übermäßigen Marktmacht des Oligopols der "großen vier", die das Geschäft bestimmen, von der Notwendigkeit, Stromerzeugung und Stromverteilung eigentumsrechtlich zu entflechten und vom verhinderten Wettbewerb der Stromanbieter innerhalb Europas. Während er darüber spricht, nickt Frank Eschenauer bestätigend und sagt: "Die machen gigantische Gewinne, und wir sind die Leidtragenden. Am Ende löffeln die Arbeitnehmer die Suppe aus." Diese Meinung vertritt er auch als ehrenamtliches Mitglied im Hauptvorstand seiner Gewerkschaft IG BCE, in der vor allem die Kollegen aus der Strombranche einen etwas anderen Standpunkt haben.
IM WETTBEWERB MEHRFACH BENACHTEILIGT_ Argwöhnisch stellte der Verband Deutscher Papierfabriken vor dem Energiegipfel von Kanzlerin Merkel im vergangenen Jahr fest, dass "vorwiegend Vertreter der Energiewirtschaft und nichtindustrieller Organisationen geladen" seien. Dies dürfe nicht dazu führen, dass die Interessen energieintensiver Branchen unberücksichtigt blieben. Das Gegenteil scheint der Fall: Ermäßigungen bei den Energiesteuern, wie sie energieintensive Unternehmen seit Einführung der Ökosteuer erhalten, drohen wegzufallen und die Papierindustrie zusätzlich mit bis zu 250 Millionen Euro pro Jahr zu belasten. "Unsere europäischen Nachbarn kennen diese Art Steuern nicht, was unseren Wettbewerbern deutliche Vorteile verschafft", sagt Betriebsrat Eschenauer.
DER ROHSTOFF IST BEGEHRT_ Damit nicht genug. Auch die Preise für Zellstoff, wichtigster Rohstoff bei der Papierproduktion, der durch chemischen Aufschluss aus Holz gewonnen wird, steigen drastisch an, im vergangenen Jahr um rund 100 Prozent. Der Grund dafür ist nicht nur, dass inzwischen auch Länder wie China und Indien als starke Nachfrager von Zellstoff auf dem Weltmarkt auftreten und den Preis in die Höhe treiben. In Deutschland selbst sitzen neue Konkurrenten - die Besitzer von Holzöfen und Kaminen, die vom selbst gesammelten Holz aus dem Wald bis zu industriell gefertigten Pellets alles verfeuern. Auch Holzhäuser liegen im Trend. Die gestiegenen Preise für Öl und Gas haben einen Boom beim Holz als Energieträger ausgelöst, der zusätzlich angeheizt wird durch die subventionierte Verbrennung von Holz in Biomassekraftwerken.
Dabei gilt den Papiermachern das Verfeuern von Holz im heimischen Ofen schlicht als "Verschwendung". Eine vom europäischen Papierverband beauftragte Studie ergab, dass die Wertschöpfung von Holz bei der Verarbeitung zu Papier viermal höher ist als bei der Verwendung als Brennmaterial; der Beschäftigungseffekt sei sogar sechsmal stärker.
Doch nichts spricht dafür, dass sich die Konkurrenz um die energetische und die stoffliche Verwendung von Holz entschärfen wird. Im Gegenteil: Die deutsche Papierbranche - in Europa die Nummer eins, weltweit an vierter Stelle - hat 2006 eine Rekordmenge von 23 Millionen Tonnen Papier, Karton und Pappe produziert, in diesem Jahr sollen es dank der wachsenden (Welt)-Wirtschaft noch mehr sein. Die Holz- und Zellstoffpreise werden also weiter steigen. Wie die Preise für Energie.
Aber weil die Branche unter Überkapazitäten leidet - sprich weil zu viele Papierhersteller um die Aufträge konkurrieren - können sie die steigenden Kosten nur teilweise, wenn überhaupt, in steigenden Verkaufspreisen an die Kunden weitergeben. "Der Papiermarkt ist ein Käufermarkt", sagt Betriebsrat Frank Eschenauer, "im Segment der Feinpapiere für hochwertige Verpackungen, Geschäftsberichte oder Hochglanzmagazine, das wir bedienen, sind die Preise für uns in den vergangenen 15 Jahren um bis zu 50 Prozent gefallen."
RÜCKZUG DER PAPIERKONZERNE AUS EUROPA_ Dass sie sich nach langjähriger Talfahrt jetzt wieder langsam stabilisieren und teilweise sogar leicht steigen, könnte für einige Betriebe in Deutschland und Europa freilich zu spät kommen. Denn längst haben die großen Papierkonzerne in ihren Bemühungen, Kapazitäten abzubauen, ihre europäischen Fabriken im Visier und investieren eher in neue Standorte in Asien (vor allem China) und Südamerika. In der österreichischen Papierindustrie wird schon davor gewarnt, die Branche könnte eine "neue Textilindustrie" werden, die sich allmählich aus Europa verabschiedet.
Dabei geht es den Konzernen weniger um Einsparungen bei den Lohnkosten, die spielen in der hochautomatisierten Branche ohnehin eine immer geringere Rolle, der letzte Tarifabschluss lag in Deutschland bei 3,2 Prozent - ein Klacks, gemessen an den Steigerungen beim Strom und Zellstoff. Vielmehr geht es den Konzernen um die Präsenz auf neuen Absatz- und Rohstoffmärkten. "Die Frage ist also, ob wir hier nur noch eine Dienstleistungsgesellschaft sein wollen, in der wir uns gegenseitig das Auto waschen und Pommes verkaufen", sagt Betriebsrat Frank Eschenauer, "oder ob der Industriestandort Deutschland energie- und rohstoffintensiven Branchen wie uns noch eine Zukunft bietet."
STROMPREIS BEEINTRÄCHTIGT WIRTSCHAFTSWACHSTUM_ Dass die Papiermacher aus Bergisch Gladbach mit ihrer Warnung vor "existenzgefährdenden" Strompreisen nicht übertreiben, bestätigen jetzt auch zwei Gutachten des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI) und der Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung (GWS) in Osnabrück. Im Auftrag der Norddeutschen Affinerie (NA), dem größten Kupfererzeuger Europas, haben die Wirtschaftsforscher die Wirkung von Strompreissteigerungen untersucht und kommen zum Ergebnis, dass das Wirtschaftswachstum in Deutschland im Jahr 2006 um 0,37 bis 0,47 Prozentpunkte hätte höher ausfallen können, wenn auf dem Strommarkt die Preise unter Wettbewerbsbedingungen gebildet würden; in Deutschland hätten dann zwischen 83 000 und 106 000 mehr Menschen in Lohn und Brot gestanden, die Inflation wäre um 0,5 bis 0,65 Prozent geringer gewesen. Die Effekte seien eher konservativ abgeschätzt und könnten sich durch Standortverlagerungen langfristig noch verstärken.
"Mit der Abwanderung energieintensiver Unternehmen werden die inländischen Wertschöpfungsketten unterbrochen und damit auch der Wissens- und Technologietransfer. Dies führt zu einer langsamen Erosion des Industriestandorts Deutschland", so die Verfasser der Studien.
Werner Marnette, Chef der Norddeutschen Affinerie (NA), begrüßte bei der Vorstellung der Gutachten Ende April, dass die EU-Kommission den Druck auf die Energiekonzerne massiv erhöht hat. Brüssel droht damit, den Energieriesen die Netze zu entziehen, da regionale Netzmonopole und hohe Durchleitungspreise als Hauptgrund für mangelnde Konkurrenz gelten. "Die Liberalisierung in Deutschland ist schiefgegangen", kritisierte Marnette, dessen Unternehmen einer der größten Stromverbraucher Deutschlands ist. In den vergangenen vier Jahren musste die Norddeutsche Affinerie einen Anstieg der Stromkosten von 23 auf 39 Millionen Euro verkraften. Selbst für große Industriekunden wie die NA gebe es - anders als vor der Marktliberalisierung 1998 - keinen Verhandlungsspielraum mehr für Rabatte.
Noch bis vor wenigen Wochen hatte das Unternehmen deshalb erklärt, ein eigenes Kraftwerk für 340 Millionen Euro bauen zu wollen. Doch nun hat sich offenbar doch Verhandlungsspielraum aufgetan, Anfang Mai gab der Kupferkonzern überraschend bekannt, man habe sich mit Vattenfall Europe geeinigt: Ab 2010 soll die Norddeutsche Affinerie jährlich eine Milliarde kWh Strom von Vattenfall beziehen, und zwar zu einem "sehr fairen Preis", wie Marnette meinte. Den hätten freilich auch andere verdient. Zum Beispiel die Papiermacher in Bergisch Gladbach.