Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungÜberstunden: Arbeit zum Nulltarif
Eine Milliarde Überstunden bekommen die Arbeitgeber in Deutschland jedes Jahr von den Beschäftigten geschenkt. Die Gewerkschaften wollen die unbezahlte Arbeit eindämmen. Doch das ist nicht leicht. Von Joachim F. Tornau
Das sei so üblich. Punkt. Und, bitte schön, es gebe genug andere Bewerber. Mehr bekam Thomas Schneider nicht zu hören, als er seinen Job im Supermarkt antrat und sofort zu unbezahlten Überstunden verdonnert wurde. „Wie selbstverständlich hieß es: Eine halbe Stunde vorher und nachher wird nicht vergütet“, erzählt er. Das war vor 20 Jahren, und die Lage ist nicht besser geworden. Mittlerweile ist Schneider Gewerkschaftssekretär. Bei ver.di in Leipzig kümmert er sich um den nordsächsischen Einzelhandel. „Der Verdrängungswettbewerb ist hart und wird über die Personalkosten ausgetragen“, sagt er. Wenn sich in den Innenstädten ein Discounter an den nächsten reiht, bekommen auch die Beschäftigten den Druck zu spüren.
„Die Zentrale gibt vor, mit wie vielen Stunden eine Filiale auszukommen hat“, erklärt der Gewerkschafter. Je weniger Umsatz, desto kleiner das Kontingent. Reicht das nicht aus: Pech gehabt. Dem Marktleiter, der selbst auch mal 60 Wochenstunden statt der bezahlten 38 abreiße, bleibe nur, seine Leute zu unbezahlter Mehrarbeit zu drängen. Meist mit Erfolg: „Zu sagen, ich arbeite nicht mehr und gehe nach Hause – das kostet ganz viel Kraft“, berichtet Schneider. Weil man den Chef nicht hängen lassen will oder weil man Angst hat, seinen Job zu verlieren. Von „skandalösen Zuständen“ spricht der Leipziger ver.di-Sekretär. So etwas gebe es nicht nur bei Discountern, sondern auch bei inhabergeführten Märkten.
Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesarbeitsagentur wurden 2013 in Deutschland knapp 1,8 Milliarden Überstunden geleistet. Gut eine Milliarde wurde weder entlohnt noch ausgeglichen. Dieser Wert entspricht 2,1 Prozent des gesamten Arbeitsvolumens.
Früher war das eher die Ausnahme: Noch 1992 gab es mehr als doppelt so viel bezahlte wie unbezahlte Überstunden. Bei einer Befragung für den DGB-Index Gute Arbeit gaben zuletzt 17 Prozent der Teilnehmer an, sehr häufig oder oft unentgeltliche Überstunden zu leisten. Die unbezahlten Stunden verteilen sich aber nicht gleichmäßig auf alle Branchen. In der Chemie- und Metallindustrie, im Baugewerbe, in der Verwaltung und selbst im Handel lag der Anteil niedriger als der Durchschnitt, höher war er im Sozial- und Gesundheitswesen oder in der Medienbranche.
REKORDHALTER ERZIEHUNGSBERUFE
Dramatisch aber sind die Antworten der Befragten, die sich der Kategorie „Erziehung und Unterricht“ zugeordnet hatten – 45 Prozent gaben an, sehr häufig oder oft unbezahlt arbeiten. Was sind die Ursachen? Verursacht würden diese Zahlen zum einen durch Nachwuchswissenschaftler an den Universitäten, erklärt Gesa Bruno-Latocha, Tarifreferentin bei der Bildungsgewerkschaft GEW. „Viele haben Teilzeitstellen, aber es wird erwartet, dass sie Vollzeit arbeiten.“ Doktoranden und Postdocs, die sich von Befristung zu Befristung hangeln, verweigern sich kaum. „Es gibt viel Selbstausbeutung, weil die Leute erpressbar sind“, sagt Bruno-Latocha. Auch in Kindertagesstätten leistet, wer den Job ernst nimmt, fast automatisch unbezahlte Mehrarbeit. Wer sich vorbereiten will, ein Theaterstück plant oder Bastelmaterial besorgt, muss das in der Freizeit tun. Denn nach den allermeisten Tarifverträgen gilt nur die Anwesenheit in der Kita als Arbeitszeit.
Bleibt noch die größte Gruppe in der GEW. Lehrer haben vormittags recht und nachmittags frei? Die Wirklichkeit sieht anders aus. Zwar stimmt, dass nur die Zahl der Unterrichtsstunden vorgeschrieben ist, nicht die Wochenarbeitszeit. Doch das scheint eher ein Nachteil als ein Vorteil zu sein. Frank Mußmann und Martin Riethmüller von der Universität Göttingen haben in einer von der GEW angestoßenen Untersuchung am Tellkampf-Gymnasium in Hannover exemplarisch ermittelt, wie viel Lehrer tatsächlich arbeiten, wobei sie sich an der Beamtenjahresarbeitszeit orientierten. Vier Monate lang hielten die Lehrer im vergangenen Jahr minutiös fest, wann sie welche Tätigkeiten verrichteten. Am Ende ergaben sich für jede Schulwoche rechnerisch 49,44 Stunden – etwa zweieinhalb Überstunden, gemessen an der von Beamten vertraglich geschuldeten Arbeitszeit von 47 Stunden. Das war noch, bevor die rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen die Unterrichtsverpflichtung für Gymnasiallehrer um eine Stunde pro Woche erhöhte.
Eine weitere, breiter angelegte Studie soll folgen. Die GEW-Gewerkschafterin Bruno-Latocha fordert schon jetzt, bevor die neuen, dann repräsentativen Daten vorliegen, die Unterrichtsverpflichtung („Die ist heute höher als im Jahr 1900!“) müsse gesenkt werden. Und es sei mehr Personal nötig, um Lehrer von unterrichtsfremden Tätigkeiten zu entlasten. „Zurzeit muss der Musiklehrer die Instrumente selbst zur Reparatur bringen, der Physiklehrer muss die Sammlung vervollständigen, und die Schulleiterin muss Verwaltungsaufgaben erledigen, für die sie gleichzeitig überbezahlt und fehlqualifiziert ist.“
PREKÄRE BEDINGUNGEN IN REDAKTIONEN
Immer mehr zu tun bei einer Personalstärke, die bestenfalls unverändert bleibt, meistens jedoch eher sinkt: Das ist der Grund, warum auch in Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen unbezahlte Überstunden Alltag sind. Zwar gehörte es früher, vor der Jahrtausendwende, schon zum Berufsethos vieler Journalisten, so lange zu arbeiten, bis das Blatt gefüllt war – und den Rahmen eines Nine-to-five-Jobs regelmäßig zu sprengen. Aber das war, wie Matthias von Fintel es ausdrückt, „gelebte Vertrauensarbeitszeit“. Die Redakteure, erläutert der Tarifsekretär Medien beim ver.di-Bundesvorstand, hätten sich ihre Zeit etwas selbstbestimmter einteilen können, dafür schauten sie nicht so genau auf die Uhr. „Heute ist die Arbeit so verdichtet, dass es kaum noch Freiraum gibt“, sagt von Fintel.
Nicht mehr nur die Printausgabe gilt es zu bestücken, auch die Onlineangebote müssen betreut und im Laufe eines Tages möglichst mehrfach aktualisiert werden. Meist lasten beide Aufgaben auf einer einzigen Redaktion. „Überstunden“, sagt der Tarifsekretär, „ergeben sich da zwangsläufig.“ Die Arbeit sei zunehmend fremdbestimmt durch die hohe Taktzahl der Informationen und die Notwendigkeit, darauf sofort zu reagieren. Dennoch hätten erst wenige Zeitungsverlage ein System zur Arbeitszeiterfassung eingeführt.
Was allerdings nicht allein am Unwillen der Verleger liege, die sich gegen vermeintlichen „Stechuhr-Journalismus“ wehren: „Auch viele Redakteure wollen so lange ihrem Berufsethos gerecht werden, bis sie merken, es geht nicht mehr. Dann leiden sie aber häufig schon an gesundheitlichen Problemen“, sagt von Fintel. „Mit neuen Angeboten wollen wir ihr Problembewusstsein schärfen.“ Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di hat dafür eine Smartphone-App zur individuellen Arbeitszeiterfassung entwickelt. Bei Arbeitsbeginn, Ende und Pausen muss nur stets auf die entsprechenden Schaltflächen getippt werden, dann errechnet das Programm die tägliche, wöchentliche oder monatliche Arbeitszeit. Außerdem sind die arbeitszeitrelevanten Teile der Tarifverträge abrufbar. Das Ziel: den Kollegen in den Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen vor Augen zu führen, wie viele Stunden sie für lau arbeiten. Damit sie sich zusammen mit dem Betriebsrat für Veränderungen einsetzen. Denn: Stechuhr ja oder nein – das ist eine mitbestimmungspflichtige Frage. Wenn die Arbeitszeit erfasst werden soll, braucht es eine Betriebsvereinbarung. Die Arbeitnehmervertretung hat das Recht, Verhandlungen darüber zu verlangen. Doch aussichtsreich ist das nur mit Rückendeckung durch die Beschäftigten.
Sensibilisierung als erster Schritt, darauf setzt auch die IG Metall. „Es gehört zur Organisationspflicht des Arbeitgebers, die Arbeitszeiten so zu dokumentieren, dass sie auch rückwirkend überprüfbar sind“, sagt Verena zu Dohna-Jäger, Leiterin des Ressorts Betriebsverfassung und Unternehmensmitbestimmung beim IG-Metall-Vorstand. Sie will Betriebsräte dazu ermutigen, einen genaueren Blick auf die Arbeitszeitpraxis zu werfen. Schließlich ist es geltendes Recht, dass der Arbeitgeber, solange keine Zustimmung des Betriebsrats vorliegt, keine Überstunden anordnen oder entgegennehmen darf. „Wir wollen dem Trend zur schleichenden Ausweitung der Arbeitszeit entgegenwirken“, sagt Dohna-Jäger. Auch neuere Entwicklungen – wie die zunehmende und durchaus positiv besetzte Möglichkeit mobiler Arbeit – müssten dabei per Betriebsvereinbarung geregelt werden.
Für Thomas Schneider, den Leipziger ver.di-Sekretär, muss das paradiesisch klingen. Starke Betriebsräte, die Betriebsvereinbarungen aushandeln könnten, sind im Lebensmitteleinzelhandel dünn gesät. Und bei manchen Supermarktketten ist ein Betriebsrat für eine ganze Region mit Hunderten von Filialen zuständig. „Oft sind das Schein- und Alibiveranstaltungen“, sagt Schneider. Der Weg zu besseren Arbeitsbedingungen führt für ihn deshalb eher über öffentlichen Druck – und darüber, die Beschäftigten in den Märkten zu organisieren, sie zum gemeinsamen Widerstand zu bewegen. Ein mühsames Geschäft. Doch er bleibt zuversichtlich: „Das gelingt uns immer besser.“
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