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Magazin Mitbestimmung

: 'Wir müssen viel radikaler werden'

Ausgabe 09/2008

INTERVIEW Eine gute Regierung ist der beste Garant für eine nachhaltige Entwicklung, sagt der Politikwissenschaftler Martin Jänicke. Wie muss eine Industriepolitik aussehen, die unsere Lebensgrundlagen dauerhaft erhält?

Das Gespräch führten KAY MEINERS und CHRISTOPH MULITZE/Foto: David Ausserhofer

Herr Jänicke, was ist die Droge unserer Zeit? Der Schriftsteller Kurt Vonnegut hat einmal geschrieben, wir alle seien fossilbrennstoffsüchtig im Stadium der Leugnung.
Die Energiewirtschaft benutzt ein anderes Bild - sie spricht vom Energiehunger. Solche Bilder suggerieren, die Bürger seien an ihrer Abhängigkeit von fossiler Energie selbst schuld.
 
Sind sie nicht?
Richtig ist: Diese Technik ist uns angeboten worden, und wir haben mitgespielt. Aber Bilder von Sucht oder Hunger verschleiern den Blick auf die Institutionen, die das Problem verursacht haben: auf die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft. Man kommt dann leicht zu dem Schluss: Wir alle müssen das Problem lösen, möglichst durch Verzicht.

Warum ist es falsch, an das Gewissen des Einzelnen zu appellieren?
Weil es ein spieltheoretisches Dilemma gibt: Viele Leute würden ihr Auto stehen lassen, wenn sie sicher sein könnten, dass Millionen Menschen das auch tun. Nur so erzielt der Verzicht ja eine Wirkung. Das funktioniert aber nicht. Wenn ich als Einzelner etwas tue, werde ich zwar glaubwürdiger, aber ich rette die Welt nicht.

Wer muss dann das Problem lösen?
Es gibt nur eine Institution, die prinzipiell dem Gemeinwohl verpflichtet ist: den demokratischen Staat. Die Industrie ist frei darin, etwas zur Lösung zentraler Weltprobleme zu tun oder nicht. Der Staat muss etwas tun. Die Regierenden sind durch Verfassung, Öffentlichkeit und Wahlen dazu verpflichtet. Der Staat tut einiges in diesem Sinne - aber er subventioniert auch Spritfresser als Dienstwagen. Diesen Widerspruch lösen wir nicht individuell.

Erst seit ein paar Jahrzehnten kümmern sich Staaten um Umweltpolitik. Wie kam es überhaupt dazu?
In Deutschland begann diese Entwicklung 1969 mit der Ära Willy Brandt. Das war die notwendige Reaktion auf die umweltbelastende Nachkriegsentwicklung. Damals war sogar die FDP als Koalitionspartner der SPD eine Art Umweltpartei. Hinter der Entwicklung standen aber auch Protestbewegungen, kritische Wissenschaftler und zunehmend auch die Medien - alles zusammen erzeugte den Druck, etwas zu tun.
 
Sie verwenden in Ihren Büchern den Begriff des "Umweltstaates". Was ist damit gemeint?
Analog zum Sozialstaat bildet sich allmählich eine neue Kernfunktion des Staates heraus: der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Diese Funktion hat sich unter dem Druck der Umweltverhältnisse immer weiter entwickelt. Sie betrifft die gesamte Staatstätigkeit - von der Industrie- bis zur Baupolitik. Sogar die Bundeswehr befasst sich heute mit Umweltschutz auf Truppenübungsplätzen. In das Klimaschutzprogramm der Bundesregierung sind heute sechs Ministerien involviert. Das zeigt die Richtung an.

Wann ist das Projekt des Umweltstaates vollendet?
Das ist ein langfristiger Prozess. Auch der Sozialstaat entwickelte sich, unter dem Druck der Arbeiterbewegung, über 100 Jahre lang. Er ist zur Daueraufgabe geworden, und heute ist er wichtiger denn je. So wird es auch bei der Umwelt sein. Zunehmend wird der Staat auf Probleme reagieren, die sich zuspitzen. Er wird unter dem Druck von Umweltbewegungen und akuten Krisen gezwungen sein, immer mehr zu tun.

Wie beurteilen Sie die deutschen Gewerkschaften? Sind die Teil der grünen Koalition?
Hier ist das Bild sehr unterschiedlich. Einerseits haben die Gewerkschaften mit ihren frühen Umweltprogrammen und der Forderung nach qualitativem Wachstum eine positive Rolle gespielt - zum Beispiel beim IG-Metall-Kongress zur Qualität des Lebens 1972. Daneben gibt es harten Industrielobbyismus. Aktuell befindet sich die IG BAU in einem interessanten Wandel. Sie hat im Zeichen des Klimaschutzes und der energetischen Gebäudesanierung ökonomisch wieder Fuß fassen können. Auch der Maschinenbau profitiert zunehmend vom Umweltschutz, und die Landwirtschaft verändert sich im Zeichen der erneuerbaren Energien und des Bio-Booms.

Und die Industrie?
Die ist nicht mehr das Hauptproblem. Am schlimmsten sind Haushalt, Nahrung und Verkehr. Sie sind für 70 bis 80 Prozent der negativen Umwelteffekte verantwortlich. Sie bringen einen hohen Verbrauch an Fläche, Ressourcen und Energie mit sich. Die Massentierhaltung verursacht massive ökologische und klimatische Probleme. Landwirtschaft, Verkehr und der Wohnungssektor bergen zugleich das höchste Potenzial für Verbesserungen.

Wer sind die größten Bremser in Sachen nachhaltiger Umwelt- und Klimapolitik?
Die klassischen Verlierer von Klimaschutz-Innovationen. Die Energiekonzerne investieren weiter in Kohlekraftwerke, die durch den Emissionshandel eigentlich bald unrentabel sein müssten. Sie glauben, dass ihre Macht ausreicht, die alten Pfade weiterzugehen. Und die Autokonzerne haben aus der ersten Ölkrise nichts gelernt und bis in die neueste Zeit die PS-Werte ihrer Flotten systematisch gesteigert.

Wie könnte man umsteuern?
Ich will nicht morgen alle Kohlekraftwerke abschalten. Über vernünftige Neubau-Konzepte, um alte Kohlekraftwerke in begrenztem Umfang zu ersetzen, kann man reden. Bedingung ist eine konsequente Nutzung der Abwärme durch Kraft-Wärme-Kopplung. Und doch kann es darum allein heute nicht mehr gehen. Wir brauchen radikale Innovationen - also nicht das bessere Kohlekraftwerk, sondern Fotovoltaik und andere erneuerbare Energien. Diese Technik wird immer noch unterschätzt.

Die Fotovoltaik liefert heute erst rund ein Prozent unseres Strombedarfs. Sie können damit keine Kohle ersetzen.
Ein forcierter technischer Fortschritt setzt politische Anstrengungen voraus. Das weltweite Wachstum der Fotovoltaik von 50 Prozent in den letzten beiden Jahren zeigt, wie rasch sich die Dinge verändern. Auch die Beschäftigungseffekte sind eindrucksvoll. Die fossilen Ressourcen sind endlich, und zwangsläufig steigen die Preise. Daher wird die neue Technik sehr rasch wirtschaftlich.

Wie gut sind die Autokonzerne für die Zukunft gerüstet?
Die Modelle, die jetzt in den Läden stehen, wurden noch vor dem letzten Preisschub entwickelt. Sie werden so lange verkauft, bis sie sich amortisiert haben. Ganz neue Fahrzeugflotten, die ernsthaft auf die höheren Energiepreise reagieren, bekommen wir vielleicht erst 2015. Ich erwarte aber, dass die deutsche Industrie dann trotzdem weltweit führend sein wird, was sparsame Autos angeht.

Sie klingen wie jemand, der keine Zeit hat.
Es muss zu dramatischen Veränderungen kommen. Das bedeutet nicht nur, dass der Fortschritt seine Richtung ändern muss: Er muss sich auch massiv beschleunigen, wenn wir Probleme wie den Klimawandel bewältigen wollen. Überdies müssen sich die neuen Techniken global durchsetzen, wenn sie eine angemessene Wirkung erzielen sollen.

Viele Leute haben Angst vor Umweltschäden oder Rohstoffknappheit - zugleich wächst aber aktuell der Druck nach bezahlbarer Energie. In vielen Ländern wird gefordert, Atomkraftwerke laufen zu lassen oder die Benzinsteuer zu senken.
Im Moment ist die Situation in der Tat besonders kritisch. Denn beides nimmt zu - die Umweltangst der Bevölkerung und der politischen Klasse und zugleich die soziale und finanzielle Belastung durch Energiekosten. Das macht Politik nicht leichter. Umweltpolitik war auch früher nie unabhängig vom Konjunkturzyklus. Atomkraft ist übrigens - ganz unabhängig von den nicht geringer gewordenen Sicherheitsrisiken und der ungelösten Entsorgungsfrage - viel zu teuer, um einen nennenswerte Beitrag zum Klimaschutz zu leisten. Sie wird das Innovationstempo eher verlangsamen.

Ist Umweltpolitik ein Faktor, der Wachstum und Beschäftigung gefährdet?
Diesen Humbug haben wir viel zu lange geglaubt. Und zwar deshalb, weil wir die Innovationseffekte der Umweltpolitik ignoriert haben. Ganz langsam beginnen wir, umzudenken. Deutschland bietet hinreichend Anschauungsmaterial dafür, dass anspruchsvoller Umweltschutz auch ökonomisch eine Erfolgsstory sein kann. Wo haben wir größere Exporterfolge als im Umwelt- und Klimaschutz?

Aber Umweltpolitik kostet Geld.
Geld, das Sie als Investition sehen müssen. Energie und Ressourcen zu schonen, umweltschonende Techniken marktreif zu machen - all das bietet massive Wettbewerbsvorteile.

Ja - bis zu einem gewissen Punkt. Dem Punkt, bis zu dem Kapitaleigner und Verbraucher mitgehen.
Das ist richtig. Selbst da, wo Unternehmer Geld sparen können, handeln sie oft nicht. Unternehmen sind viel komplizierter, als es das Klischee der Ökonomen vom rationalen Unternehmer suggeriert. Es gibt Informationsmängel, Unsicherheit darüber, was genau zu tun ist, falsche Prioritäten bei den Investitionen. Solche Hemmnisse werden oft durch staatliche Regelungen abgebaut.

Wandern die Unternehmen ab, wenn wir es beim Umweltschutz übertreiben?
Es gibt bei Umweltstandards keinen Dumping-Wettbewerb nach unten. Länder, die das versucht haben, sind grandios gescheitert. Indien lockte die US-Firma Union Carbide mit dem Versprechen, im Land frei schalten und walten zu können. Das Ergebnis war das Chemieunglück von Bhopal 1984. In den 80er Jahren versuchten Firmen, Giftmüll nach Nigeria zu exportieren. Die Sache flog auf; und herausgekommen ist die Baseler Konvention, die verbietet, toxische Abfälle in Länder der Dritten Welt zu exportieren. Seitdem wissen alle, dass sich diese Strategie nicht lohnt.

China ist ein Land, das mit der Umwelt sehr sorglos umgeht, und ein Land, das am Weltmarkt sehr erfolgreich ist. Das Gegenbeispiel zu Ihrer These?
Nein. Die Umweltschäden in China sind enorm, das ist richtig. Aber das Land ist nicht erfolgreich, weil es die Umwelt verschmutzt, sondern wegen der niedrigen Lohnkosten. Die Umweltkosten und selbst die Energiekosten spielen in den meisten Branchen keine entscheidende Rolle.

Die globale Lohnkonkurrenz funktioniert doch auch ganz gut. Ist Umweltdumping wirklich eine absurde Idee?
Manche Firmen, die sagen, dass sie hohen Standards entkommen wollen, fliehen vielleicht nur vor der Bürokratie. Die EU hat im Umwelt- und Klimaschutz eine regulative Dominanz entfaltet. Wer hier Autos verkaufen will, muss die strengen Euro-Normen einhalten. Eine ähnliche Dominanz besteht im Umgang mit Chemikalien und Elektroschrott. Weil das so ist, übernehmen andere exportorientierte Länder sicherheitshalber diese Standards. Niemand wagt es, von einem grünen Protektionismus zu reden. Aber diesen Effekt gibt es auch.

Was fällt Ihnen ein, um Deutschland grüner zu machen?
Wir müssen uns fragen, worauf wir in den nächsten 50 Jahren Steuern erheben. Durch eine ökologische Steuerreform kann man den Flächenverbrauch, den Einsatz von Dünger und die Beeinträchtigung des Klimas besteuern. Im Gegenzug kann man die Lohnnebenkosten senken. Außerdem kann man progressive Stromtarife einführen und die niedrigeren Verbrauchsstufen zugleich billiger machen. Japan hatte lange sogar für die Industrie progressive Strompreise. Sie glauben gar nicht, was danach alles unternommen wurde, um Energie zu sparen. Japan hat die beste Energieeffizienz der Welt.

Wirtschaft braucht die Natur als Ressource und Rohstofflieferant. Schaffen wir es irgendwann, das wirtschaftliche Wachstum vom Ressourcenverbrauch abzukoppeln?
Das technische Potenzial dazu haben wir. Es gibt bereits Häuser in Deutschland, die Energie produzieren, statt in hohem Maße Energie zu verbrauchen. Wir brauchen Investitionsprogramme, die so etwas vorfinanzieren.

Welche Probleme werden wir mit verfügbarer Technik nur schwer in den Griff kriegen?
Die Plünderung der Meere, die Bedrohung der Biodiversität, den Flächenverbrauch und die diffuse Kontamination der Umwelt und des Grundwassers mit hunderten Schadstoffen in geringer Konzentration. Je mehr Ursache und Wirkung zeitlich und räumlich auseinanderfallen, desto hartnäckiger sind die Probleme. Und doch ist auch hier viel gelernt worden.

Welche Politiker tun eigentlich mehr für den Umweltschutz - rechte oder linke?
Die Statistik sagt, dass linke Regierungen etwas vorn liegen - vielleicht, weil sie näher an der Basis sind. Aber es gibt eindrucksvolle Ausnahmen - die japanische Regierung in den 1970er Jahren oder die Christdemokraten in Holland, deren Politik von den Sozialdemokraten fortgesetzt wurde. Auch hier in Deutschland gibt es einen parteiübergreifenden Konsens beim Klimaschutz. Rot-Grün bedeutete einen deutlichen Durchbruch. Aber die große Koalition hat das fortgesetzt.

Sie sind mit der aktuellen Politik also zufrieden?
Nein, wir müssen viel radikaler werden. Aber wir können uns depressive Weltklagen nicht leisten. Die Bevölkerung muss vielmehr besser informiert werden. Wir müssen auch die Institutionen stärken, die nicht alle vier oder fünf Jahre durch Wahlen verändert werden: die Ministerien und ihre Fachleute, die Wissenschaft, die internationalen Organisationen, die höheren Gerichte.

Mal ehrlich - mit einer Diktatur kämen wir schneller ans Ziel. Was meinen Sie? Vielleicht lernen die Chinesen schnell und überholen uns dann.
Aber nein. Alle bisherigen Diktaturen haben eine vernichtende Öko-Bilanz.

Das waren keine Öko-Diktaturen. Der Test steht noch aus.
Jede Diktatur neigt dazu, wichtige Interessen des Landes zu ignorieren, schon deshalb, weil diese nicht artikuliert werden können. Der unerlässliche Druck freier Umweltverbände, kritischer Medien oder unabhängiger Forschungsinstitute entwickelt sich nur im demokratischen System ausreichend. Ich wünsche mir aber Politiker, die den Mut haben, auch für unpopuläre Maßnahmen um Stimmen zu werben.


ZUR PERSON

Martin Jänicke hat seinen Garten naturnah umgestaltet und fährt einen VW Lupo, der mit drei Litern auskommt - wer ihn in Berlin besucht, merkt, dass er bei einem Vordenker der grünen Revolution zu Gast ist. Der Politikwissenschaftler und Politikberater, geboren 1937 in der Mark Brandenburg, arbeitete von 1971 bis 2002 als Professor an der FU Berlin. Dort leitete er mehr als 20 Jahre lang die Forschungsstelle Umweltpolitik. Von 1999 bis 2008 war er Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen. Jänicke ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sein jüngstes Buch "Megatrend Umweltinnovation. Zur ökologischen Modernisierung von Wirtschaft und Staat" erschien 2007.


 

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