Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: 'Unternehmenserfolg heute heißt vor allem: die Heuschrecken draußen halten.'
INTERVIEW Auf den Finanzmärkten sieht EGB-Generalsekretär John Monks Akteure unterwegs, die kaum auf Kompromisse verpflichtet werden können. Es geht ihnen nicht um Arbeitsplätze, nur um Renditen.
Das Gespräch führte Margarete Hasel.
Vor vier Jahren, bei unserem letzten Interview, reklamierten Sie für die Gewerkschaften, Verbündete von Veränderungen zu sein. Entspricht das immer noch Ihrem Verständnis? Davon bin ich nach wie vor überzeugt. Wir sollten dabei sogar ehrgeiziger und fantasievoller sein. Gewerkschaften neigen immer ein bisschen zum Konservativismus und dazu, bestehende Strukturen hartnäckig zu verteidigen. Deshalb haben wir unserem Sevilla-Kongress das Motto "In der Offensive" gegeben. Wir wollen Veränderung.
In Ihrem Grußwort zum Kongress sprechen Sie von "wichtigen Erfolgen". Viele Bürger nehmen Europa aber vor allem als Motor der Globalisierung wahr - mit negativen Auswirkungen auf ihren Lebensstandard. Wie wollen Sie diese Vorurteile oder tiefen Überzeugungen überwinden? Tatsächlich waren unsere Siege eher defensiver Natur und bestanden vor allem darin, der Kommission bei ihren wildesten Vorhaben in die Parade zu fahren, bei der Dienstleistungsrichtlinie und dem so genannten Port Package II zur Deregulierung der Hafenwirtschaft.
Wir sollten freilich nicht vergessen - und ich erinnere meine Gewerkschaftskollegen immer wieder daran -, dass der gemeinsame Markt eine Reaktion auf die verheerenden Erfahrungen mit Nationalismus und Protektionismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war. Dass die sozialen Errungenschaften, die öffentlichen Dienste, die Arbeitnehmerrechte, der Sozialstaat nicht auf der Strecke bleiben, dafür werden wir uns in Sevilla stark machen.
Wie kann es den Gewerkschaften gelingen, für ein ungeliebtes politisches Projekt zu werben und zugleich zu versuchen, verlorenes Vertrauen und Meinungsführerschaft zurückzugewinnen? Wir sind stark im Öffentlichen Dienst und in den industriellen Großunternehmen. Im privaten Dienstleistungssektor, der heute bereits rund 70 Prozent der Arbeitnehmer beschäftigt, hingegen sind wir schwach. Das gilt für Deutschland wie für ganz Europa, vielleicht mit Ausnahme der skandinavischen Länder.
Wir müssen also attraktiv werden für die jungen, gut qualifizierten Angestellten in den neuen Branchen. Das Gleiche gilt für die Migranten und schlecht Qualifizierten am unteren Ende des Arbeitsmarktes. Dass wir ihre Anliegen ernst nehmen, hat der erfolgreiche Kampf gegen die Dienstleistungsrichtlinie gezeigt.
Das Thema "gute Arbeit" steht ganz oben auf der europäischen Agenda, während tatsächlich vor allem prekäre Beschäftigung zunimmt. Das stimmt für viele Länder. Aber es gab auch eine eindrucksvolle Zunahme an qualifizierten Jobs - in den nordischen Ländern beispielsweise. Auch in Großbritannien und Irland hat nicht nur die prekäre Beschäftigung zugenommen. Besorgniserregend hingegen ist die Entwicklung in den südeuropäischen Ländern und insbesondere in Deutschland, wo der wirtschaftliche Aufschwung bislang kaum anständige Arbeitsplätze generiert hat.
Darauf zielt unsere Kampagne: gleicher Lohn für Leiharbeiter, gleiche Arbeitsbedingungen für befristet und unbefristet Beschäftigte. Wir wollen, dass prekäre Arbeit teurer wird - und damit unattraktiver für die Arbeitgeber.
Ziel ist nicht, atypische Beschäftigung abzuschaffen? Es wird immer einen gewissen Bedarf für atypische und befristete Beschäftigung geben - in der Landwirtschaft bei der Ernte oder vor Weihnachten im Einzelhandel. Entscheidend ist, wie diese Arbeitnehmer behandelt werden. Und derzeit werden sie in Europa überwiegend als Arbeitnehmer zweiter Klasse behandelt. Das wollen wir ändern. Dann werden die Arbeitgeber von ganz allein darüber nachdenken, wie sie diese Beschäftigten stärker an sich binden können.
Wer zieht die Standards nach unten? Ganz einfach: Die Arbeitgeber tun dies, weil sie damit durchkommen. Sie können ihre höheren Profiterwartungen durchsetzen. Der Anteil der Löhne am BIP ist gegenüber den Unternehmensgewinnen in vielen Ländern rückläufig. Die Schwäche der Gewerkschaften, speziell im Handel, in der Landwirtschaft und auf dem Bau, ist also ein Teil der Antwort. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit überrascht das nicht: Schon seit Menschengedenken sind dann die Arbeitgeber in einer stärkeren Position, Vollbeschäftigung hingegen stärkt die Arbeitnehmer. Deswegen liegt der Mindestlohn in Großbritannien derzeit bei rund acht Euro, weil kaum jemand bereit ist, für weniger zu arbeiten.
Damit haben die Briten einen Teil der Frage "Was ist gute Arbeit?" für sich beantwortet. Doch in Stockholm oder Warschau wird über soziale Standards anders diskutiert als in London. Bleibt als gemeinsame Strategie nur der kleinste gemeinsame Nenner? Diese Diskussion lädt zu Missverständnissen ein. Nehmen wir den Arbeits- und Gesundheitsschutz: Da wollen wir keine Mindeststandards, sondern wir wollen gute Standards. Auch die Gleichheit zwischen Mann und Frau ist nicht verhandelbar, ein bisschen mehr oder weniger Gleichheit gibt es nicht. Und das gilt auch für Informations- und Konsultationsrechte. Das sind universelle Forderungen, die von Bangladesch bis Luxemburg ihre Gültigkeit haben.
Sehen Sie Chancen für einen europäischen Mindestlohn? Jede Gesellschaft braucht einen angemessenen Mindestlohn - wie sie ihn festlegt, ob per Gesetz oder per Tarifvertrag, bleibt ihr überlassen. Im EGB gibt es eine heftige Diskussion, ob wir einen europäischen Mindestlohn fordern sollen. Ich bin skeptisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir eine Formel finden, die auf alle Länder anwendbar ist. Deswegen sollten die polnischen Gewerkschaften für sich die Frage beantworten, welche Schutzrechte die Menschen im Niedriglohnsektor im polnischen Kontext brauchen.
Die schwedischen Gewerkschaften sind zu dem Ergebnis gekommen, dass sie keinen gesetzlichen Mindestlohn wollen - und angesichts eines Organisationsgrads von 80 Prozent und eines intakten Flächentarifgefüges wohl auch keinen brauchen.
Anders die deutschen Gewerkschaften. Die deutsche Diskussion erinnert mich stark an die Auseinandersetzungen im TUC, ehe 1999 der Mindestlohn in Großbritannien eingeführt wurde. Auch bei uns gab es lange eine starke Gegenfraktion, die der Meinung war, dass es starke Gewerkschaften und harte Tarifverhandlungen schon richten werden. Das änderte sich allerdings rasch, als Mrs Thatcher an die Macht kam und binnen drei Jahren ein Drittel der Arbeitsplätze in der britischen Industrie verschwunden und unser Organisationsgrad von 50 auf 30 Prozent gefallen war. Von der Einführung des Mindestlohns haben übrigens rund drei Millionen Arbeitnehmer profitiert.
Selbst die entschiedensten Gegner eines Mindestlohns müssen zugeben, dass die Effizienz der britischen Wirtschaft nicht beeinträchtigt wurde und die prognostizierten Arbeitsplatzverluste ausgeblieben sind. Wir hatten damals ein höheres Einstiegsniveau gefordert, die Regierung war sehr vorsichtig. Aber das ist Geschichte. Die Low-Pay-Commission hat den Mindestlohn seither Jahr für Jahr höher gesetzt - mit teilweise höheren Steigerungsraten als bei den Durchschnittslöhnen. Das ist der britische Weg. Die Deutschen werden ihren finden.
So weit die Versuche der europäischen Gewerkschaften, den Kapitalismus zu zähmen. Mit Hedgefonds und Private Equity sind jetzt neue Akteure aufgetaucht, die ihrerseits versuchen, die Spielregeln zu beeinflussen. Kollege Monks, Sie sehen Anzeichen für einen "neuen Kapitalismus". Was ist das Neue? Da ist zunächst die schiere Größe des neuen Finanzdienstleistungssektors. Vor nicht allzu langer Zeit konnte jedes Unternehmen von jeder Bank jeden Kredit kriegen. Heutzutage diktiert beispielsweise Goldman Sachs die Konditionen. Die Kräfteverhältnisse zwischen Industrie und Finanzdienstleistern haben sich umgekehrt. Hinzu kommt der gewachsene Einfluss der Shareholder. Bis vor kurzem konnten sich die Unternehmensvorstände einigermaßen sicher fühlen - solange nur die Kurse stiegen.
Damit ist es in den Zeiten von Übernahmen und Fusionen und den damit verbundenen Versprechungen auf höhere Renditen vorbei. Jetzt müssen sie Quartalszahlen vorlegen, die immer kurzfristigere Shareholder-Value-Erwartungen bedienen sollen. Es ist nicht einfach, ein Unternehmen zu führen, das 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche zum Verkauf steht. Und diesen Druck verstärken, das ist ebenfalls neu, Hedgefonds und Private Equity.
Die Finanzdienstleister ihrerseits behaupten, dass ihr Tun vor allem auf die Effizienzsteigerung des Wirtschaftens abziele. Sie bringen in der Regel keine Idee zur Verbesserung des Unternehmens mit, an dem sie sich beteiligen. Es geht ihnen nicht um Arbeitsplätze, ihr einziges Interesse zielt auf den Shareholder-Value. Dazu ein Beispiel: Die britische Supermarktkette Saintsbury's - die Nummer zwei in Großbritannien - war ein ordentlich geführtes Unternehmen. Dazu gehörten auch zahlreiche Grundstücke und Immobilien, die die Begehrlichkeiten der Private Equi-ties weckten. Mit deren Verkauf, so rechneten sie, ließe sich eine Wertsteigerung von 50 Prozent erzielen. Also wurde das Tafelsilber verscherbelt.
Die nächste Rezession wird Saintbury's möglicherweise nicht überleben, weil es nicht mehr in der Lage ist, seine Schulden zu bezahlen. Bereits ein Sechstel der britischen Privatwirtschaft ist im Besitz von Private Equities. Die britischen Gewerkschaften wissen in vielen Fällen gar nicht, wer ihr Gegenüber ist. Sicher, es gibt ein oder zwei Erfolgsgeschichten, aber die meisten verhalten sich wie die Heuschrecken, von denen Franz Müntefering sprach.
Auch Finanzspekulationen gab es schon immer. Dramatisch neu ist vor allem das Ausmaß der schuldenfinanzierten Übernahmen, die dazu noch offshore dirigiert werden und sich allen nationalen Regulierungen entziehen. Wir sollten das nicht unterschätzen. Das ist kein Zurück ins 19. Jahrhundert, das ist eine neue, ganz gefährliche Strategie.
Was macht sie so gefährlich? Noch wissen wir nicht, ob Demokratie und Kasino-Kapitalismus kompatibel sind. Wenn sich die wirtschaftliche Elite, die Anteilseigner und das Management tatsächlich nur dem kurzfristigen Return on Investment und dem eigenen Einkommen verpflichtet fühlen, dann werden unsere demokratischen Gesellschaften extrem instabil.
15 Prozent Return on Investment gilt als Minimum. Das hat Auswirkungen auf Arbeitsbedingungen und Jobsicherheit. Es handelt sich um eine sehr temporeiche Strategie. Sie übernehmen die Unternehmen, die Finanzierung läuft über Schulden. Und schon sind sie wieder weg - während die Firmen auf den Schulden sitzen bleiben.
Geben diese Entwicklungen nicht all jenen Recht, die schon immer wussten, dass kooperative Beziehungen in der Wirtschaft Klassenverrat bedeuten? Dessen wurde ich oft bezichtigt.
Das geht der Mitbestimmung nicht anders. Bekennen Sie sich schuldig? Ich habe das deutsche Modell immer sehr bewundert. In den industriellen Beziehungen gibt es keine letzten Schlachten und endgültigen Siege. Wir müssen die deutsche Mitbestimmung deshalb auch gegen all jene verteidigen, die sich jetzt bestätigt sehen. Auch die nordischen Varianten dieses Modells oder das belgische System, das sich eine starke gesellschaftliche Position erarbeitet hat.
Und auch in Großbritannien müssen wir dazu beitragen, dass die Unternehmen, wo Arbeitnehmer und Arbeitgeber kooperativ zusammenarbeiten, weiterhin erfolgreich sind. Unternehmenserfolg heute heißt nicht nur gute Produktqualität und volle Auftragsbücher. Vor allem heißt es, die Heuschrecken draußen zu halten.
Sie fordern eine politische Regulierung auf europäischer Ebene. Das ist ein schwieriges Unterfangen. Die Londoner City läuft Sturm, der zuständige EU-Kommissar McCreevy ist Anhänger des neuen Kapitalismus. Was muss eine Kapitalmarktreform leisten? Die Steuerschlupflöcher müssen gestopft werden, die Schuldzinsen bei schuldenfinanzierten Übernahmen dürfen nicht länger steuerlich absetzbar sein, wie dies derzeit in Großbritannien und auch in Deutschland möglich ist. Und wir brauchen Transparenz bei den Transaktionen, dafür müssen die Regulierer sorgen.
Oder müssen wir uns vielleicht an den Gedanken gewöhnen, dass der Rheinische Kapitalismus die historische Ausnahme war, die 1989 ebenfalls begraben wurde? Ob er nur eine historische Episode war, liegt vor allem auch an uns. Wir müssen ihn verteidigen. Seine Wurzeln liegen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Damals suchte die Industrie Arbeitskräfte, qualifizierte Arbeitskräfte. Im Gegenzug ließ sie sich Stück für Stück einen Deal abringen: Jobsicherheit, Gewerkschaftsrechte, Ausbildung gegen Loyalität und Einsatzbereitschaft. Diese Spielregeln müssen wir gegen alle verteidigen, die uns ihre Kurzfristperspektive aufdrücken wollen.
ZUR PERSON
John Monks, 62, ist seit 2003 Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB). Auf dem 11. EGB-Kongress, der am 21. Mai in Sevilla beginnt, kandidiert er für eine weitere vierjährige Amtszeit. Davor stand er zehn Jahre an der Spitze des britischen Gewerkschaftsdachverbandes TUC - nach dem DGB mit 6,5 Millionen Mitgliedern die zweitstärkste Gewerkschaft Europas. Monks gilt als pragmatischer Modernisierer und überzeugter Europäer. Unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hat er nach Jahren der Depression jetzt "einen Hauch von Frühlingserwachsen in Richtung Europa" ausgemacht. Aus seiner Sympathie für die deutsche Mitbestimmung hat er nie einen Hehl gemacht.