Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: 'Gesellschaftliches Großexperiment'
DIENSTLEISTUNGEN Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit ist die einst heftig umkämpfte EU-Dienstleistungsrichtlinie zu nationalem Recht geworden. Gewerkschaften sehen die Öffnung der Märkte mit Beunruhigung. Von Joachim F. Tornau
JOACHIM F. TORNAU ist Journalist in Kassel/Foto: ddp
Der Stichtag verging ohne großes Aufsehen. Drei Jahre nach dem Inkrafttreten der europäischen Dienstleistungsrichtlinie endete am 28. Dezember 2009 die Frist zur Umsetzung in nationales Recht. Es war der erste Werktag nach dem langen Weihnachtswochenende, doch nicht nur deshalb interessierte sich kaum jemand für diesen historischen Einschnitt. Forderungen der Gewerkschaften, das Thema endlich wieder auf die politische Agenda zu heben, waren schon zuvor ungehört verhallt.
Welche negativen Folgen die Liberalisierung grenzüberschreitender Dienstleistungen auf den heimischen Arbeitsmarkt haben könnte und welche Gegenmaßnahmen deshalb in die Wege geleitet werden müssten, darüber, klagt DGB-Bundesvorstandssekretär Klaus Beck, habe während des dreijährigen Umsetzungsprozesses niemand in den Parlamenten reden wollen. Er muss es wissen - seit 2007 koordiniert und leitet er eine Arbeitsgruppe beim DGB-Vorstand, die sich mit der Umsetzung der Richtlinie und ihren Folgen befasst. "Wir erleben hier gerade ein gesellschaftliches Großexperiment mit ungewissem Ausgang", sagt Beck. Die Dienstleistungsrichtlinie öffne ein "Riesentor für Sozialdumping".
Bis zu ihrer Verabschiedung Ende 2006 hatte die "Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt" noch im Blickpunkt der Öffentlichkeit gestanden. Wie selten zuvor bei einem Vorhaben der Europäischen Union (EU) gab es heftigste politische Diskussionen; Gewerkschaften und soziale Bewegungen mobilisierten Zehntausende zu spektakulären Großdemonstrationen. Doch nachdem der als "Bolkestein-Hammer" kritisierte Entwurf - benannt nach dem damaligen EU-Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein - in einigen Punkten entschärft worden war, wurde es ruhig. Zu Unrecht, wie Kerstin Warneke vom Fachbereich Handwerk beim IG-Metall-Vorstand meint: Trotz des Erfolgs der Proteste könne keine Entwarnung gegeben werden. "Denn der undurchsichtige Text der Dienstleistungsrichtlinie birgt viele Risiken in sich."
BEDENKLICH VIEL RAUM FÜR EUGH_ Das Regelwerk soll bürokratische Hürden abbauen, damit Selbstständige vom Bäcker bis zum Bauunternehmer künftig leichter im europäischen Binnenmarkt ihre Dienste anbieten können. So gilt für Dienstleister - zu denen die EU über das landläufige Verständnis hinaus auch Handwerker oder produzierendes Gewerbe zählt - grundsätzlich das Recht ihres Herkunftsstaats. Sie dürfen, sofern es im Zielland keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt, die in der Heimat üblichen Löhne zahlen und auch nur von dort aus kontrolliert werden. Einschränkungen durch andere Staaten sind lediglich möglich, wenn die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder der Schutz der Umwelt das erfordern. An die arbeits- und sozialrechtlichen Vorgaben des Landes, in dem er tätig ist, muss sich ein Dienstleister zwar halten. Auch sie aber stehen unter dem Vorbehalt, dass sie nicht gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen.
Im Konfliktfall entscheidet der Europäische Gerichtshof (EuGH). Das, findet Warneke, sei "bedenklich" - zumal der EuGH in der jüngeren Vergangenheit mehrfach einseitig zugunsten der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit und gegen Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte geurteilt habe. Und es gibt noch mehr Unwägbarkeiten: Viele Begriffe in der Richtlinie sind so schwammig gehalten, dass auch ihre konkrete Ausgestaltung den Luxemburger Richtern überlassen bleiben dürfte. Zwischen vorübergehender Dienstleistung und dauerhafter Niederlassung (die strenger kontrolliert werden darf) wird ebenso wenig eine klare Grenze gezogen wie zwischen (Schein-)Selbstständigkeit und abhängiger Beschäftigung. Auch wann ein Betrieb vorliegt, wird nirgends definiert - dabei ist das entscheidend für das Recht auf Mitbestimmung. In einer Expertise für die Friedrich-Ebert-Stiftung kamen der Düsseldorfer Arbeitsrechtler Frank Lorenz und der Bochumer Soziologe Manfred Wannöffel darum zu einem alarmierenden Fazit: "Die Richtlinie gefährdet die Rechte entsandter und in Deutschland tätiger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer."
MIT HEISSER NADEL_ Zu diskutieren hätte es also eigentlich genug gegeben in den vergangenen drei Jahren. Dennoch verlief der Umsetzungsprozess hierzulande - wie in den anderen Mitgliedsstaaten auch - fast lautlos. Allerdings nicht reibungslos. In Deutschland wurden die Vorgaben der EU erst in letzter Minute erfüllt. Andere EU-Staaten wie Bulgarien, Griechenland, Polen, Slowenien, die Slowakei und Lettland kamen mit der Dreijahresfrist nicht aus und mussten um Aufschub bitten.
Schuld waren freilich eher technisch-administrative Probleme, nicht politische Auseinandersetzungen. Drei große Aufgaben hatten die EU-Mitglieder zu bewältigen. Erstens musste ein System der elektronischen Amtshilfe ("Internal Market Information System", kurz IMI) entwickelt werden, damit die Verwaltungen der EU-Staaten Informationen über ein Unternehmen bei seinem Herkunftsland anfordern können. Immerhin das "IMI-Basismodul", berichtet das Bundeswirtschaftsministerium, sei rechtzeitig fertig geworden. Die vollständige "IMI-Softwareversion 2.0" soll es aber erst im April 2010 geben.
Zweitens war jede einzelne nationale Regelung, vom Bundesgesetz bis zur Gemeinde- und Kammerordnung, auf Verstöße gegen die Richtlinie zu überprüfen und eventuell zu ändern. Brisant dabei: Einschränkungen für ausländische Dienstleister durften nur dann beibehalten werden, wenn das gegenüber der EU vermeldet und begründet wurde. Sonst drohte die Außerkraftsetzung. Wie aufwendig dieses "Normenscreening" war, zeigt das Beispiel Hessen: Nicht weniger als 14 000 Regelungen standen in dem Bundesland auf dem Prüfstand. Und erst kurz vor Toresschluss war das Verfahren abgeschlossen - angeblich ohne Lücken offen zu lassen.
Ähnlich zäh gestaltete sich in Deutschland auch die Erledigung der dritten Aufgabe: die Schaffung der sogenannten "Einheitlichen Ansprechpartner" (EAP), über die die Unternehmen alle nötigen Formalitäten für grenzüberschreitende Dienstleistungen abwickeln können sollen. Fast jedes Bundesland entschied sich für ein anderes Modell einer solchen zentralen Beratungsstelle: So sind die EAP in Hamburg oder Mecklenburg-Vorpommern bei den Wirtschaftskammern, in Hessen bei den Regierungspräsidien und in Nordrhein-Westfalen bei den Kommunen angesiedelt - um nur einige Beispiele zu nennen. Die nötigen Gesetze wurden in etlichen Bundesländern erst im Dezember verabschiedet. Es regierte die heiße Nadel.
Und auch das könnte unerwünschte Folgen haben. Der Grund heißt "Genehmigungsfiktion": Nach den Vorgaben der Richtlinie müssen Anträge unverzüglich und in einer bestimmten Frist bearbeitet werden. Geschieht das nicht, gelten sie automatisch als bewilligt. Die EAP arbeiten also vom ersten Tag an unter Zeitdruck. Wenn sie rechtswidrige Genehmigungen verhindern wollen, können sie sich Startschwierigkeiten eigentlich nicht leisten. "Das Instrument der Genehmigungsfiktion ist so fern von dem, was wir bisher in Deutschland haben", sagt DGB-Bundesvorstandssekretär Beck. "Das wird Probleme nach sich ziehen."
LANGE LISTE OFFENER FRAGEN_ Angesichts all dieser Schwierigkeiten und Mängel hatten nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch etwa das Institut für Mittelstandsforschung in Bonn den vorgesehenen Stichtag für zweifelhaft erklärt. Die Bundesregierung aber sah keinen Anlass, sich bei der EU für eine Fristverlängerung einzusetzen: "Es besteht ein gemeinsames Verständnis zwischen allen Beteiligten, die Dienstleistungsrichtlinie bis zum 28. Dezember 2009 umzusetzen", teilte das Bundeswirtschaftsministerium kurz vor Weihnachten lapidar mit. Und so werden viele Fragen wohl erst im Nachhinein geklärt werden - zum Beispiel, sagt Beck, die der Steuern. Zwar müssten Dienstleister ihre Einkünfte grundsätzlich im Herkunftsland dem Fiskus mitteilen. Doch die Umsatzsteuer sei hierzulande fällig. "Wie soll das kontrolliert werden?", wundert sich der Gewerkschafter. Schließlich gebe es keine Meldepflicht mehr für die Unternehmer; eine Adresse in Deutschland müssten sie nicht haben.
Auch inwiefern ausländische Dienstleister von den EAP über das deutsche Arbeits- und Sozialrecht aufgeklärt werden, ist nach wie vor offen - das Bundesarbeitsministerium hat das nach intensivem Drängen des DGB lediglich empfohlen. Und die Gewerkschaften, die diese Aufgabe übernehmen könnten, sind bislang einzig in Berlin direkt am EAP beteiligt. Neben den Arbeitgebern werden dort sogar die entsandten Beschäftigten informiert. Der DGB will sich dafür einsetzen, dass ein derartiges Angebot auch in allen anderen Bundesländern sichergestellt wird - sei es beim Einheitlichen Ansprechpartner selbst oder über einen Kooperationsvertrag zur Einrichtung einer gewerkschaftlichen Beratungsstelle. Und er möchte dafür sorgen, dass die EAP überall in staatliche Trägerschaft kommen, dem Einfluss der Kammern also wieder entzogen werden: "Die Verlagerung der Aufgaben an Private ist politisch falsch und sollte rückgängig gemacht werden", heißt es in einem Beschluss des DGB-Bundesvorstands.
DRINGLICHKEIT DES MINDESTLOHNS_ Vor allem aber sehen sich die Gewerkschaften durch die umfassende Liberalisierung grenzüberschreitender Dienstleistungen in einer ihrer Hauptforderungen bestärkt: Um Dumpingkonkurrenz zu verhindern und das Ziel "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort" nicht unerreichbar werden zu lassen, hat der DGB die Bundesregierung aufgefordert, Mindestlohnregelungen für sämtliche von der Richtlinie betroffenen Branchen zu schaffen. Und das sind fast alle: Ausdrücklich ausgenommen sind nur wenige Bereiche wie Finanzdienstleistungen, Leiharbeitsagenturen, Telekommunikation, private Sicherheitsdienste, Verkehr, Gesundheitsversorgung sowie einige soziale Dienstleistungen, die vom Staat oder in staatlichem Auftrag erbracht werden. Die öffentliche Daseinsvorsorge ist ausgeschlossen - aber bloß so lange, wie sie "nicht-wirtschaftlich" betrieben wird. Sobald es eine Gewinnerzielungsabsicht gibt, rutschen auch solche Tätigkeiten wieder in den Geltungsbereich der Richtlinie hinein. Voll erfasst werden sie, wenn in einem Sektor private und öffentliche Anbieter im Wettbewerb stehen. Mit jeder weiteren Privatisierung wächst also die Zahl der Branchen, die unter die Richtlinie fallen. Und damit, so warnt der DGB, stünden Qualität, Leistungsfähigkeit und soziale Verpflichtung öffentlicher Dienstleistungen immer mehr zur Disposition.
Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) hatte deshalb vor der Verabschiedung des umstrittenen Paragrafenwerks dafür gekämpft, öffentliche Dienstleistungen vollständig auszuschließen. "Das war eine wichtige Forderung, bei der wir leider nicht erfolgreich waren", bilanziert Wolfgang Kowalsky, Referent beim Generalsekretär des EGB. "Aber wir setzen uns weiterhin dafür ein, dass auf europäischer Ebene nicht immer nur Privatisierung vorangebracht, sondern auch etwas für die öffentlichen Dienste getan wird." So plädiere der EGB dafür, dass die EU-Staaten Listen aufstellen können, welche Dienstleistungen bei ihnen für eine Privatisierung tabu sein sollen. Denn sonst drohe ihnen so etwas wie eine Liberalisierung wider Willen. "Die Wasserversorgung ist in Frankreich privat und in Deutschland öffentlich", erklärt Kowalsky. "Da könnte ein französischer Anbieter, der in Deutschland tätig werden will, beim EuGH klagen." Deshalb müssten den EU-Mitgliedern Gegeninstrumente zur Verfügung gestellt werden. "Der Lissabon-Vertrag ermöglicht das."
In einem Jahr, so sieht es der weitere Fahrplan der EU vor, sollen die Auswirkungen der Dienstleistungsrichtlinie untersucht werden. Die Gewerkschaften wollen diesen Evaluierungsprozess kritisch begleiten. "Die Dienstleistungsrichtlinie wurde mit dem Versprechen verkauft, dass dadurch Millionen von Arbeitsplätzen entstehen", sagt Kowalsky. "Wir werden genau hinschauen, ob das Versprechen eingehalten wird - oder ob es doch nur um die Ideologie der Liberalisierung ging."
Mehr Informationen
http://www.dienstleisten-leicht-gemacht.de/ - Informationsportal des Bundeswirtschaftsministeriums zur EU-Dienstleistungsrichtlinie und ihrer Umsetzung in Deutschland
Frank Lorenz/Manfred Wannöffel: UNTER AUSSCHLUSS DER ÖFFENTLICHKEIT? Die Umsetzung
der EU-Dienstleistungsrichtlinie in nationales Recht: Eine Herausforderung für Politik und Gewerkschaften. Expertise im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung,
Mai 2009. Zusammenfassung und Download unter http://www.boecklerimpuls.de/