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Magazin Mitbestimmung

: 'Die Leute haben mittlerweile richtig Angst'

Ausgabe 07+08/2008

MITBESTIMMUNG IM OSTEN In Chemnitz funktioniert nicht, was in Stuttgarter Metallarbeitnehmerkreisen selbstverständlich dazugehört - das offensive Eintreten für Arbeitnehmerforderungen. Aber auch im Westen wird es damit schwieriger.

Von SUSANNE KAILITZ, Journalistin in Dresden/Foto: Heinz Patzig


"Ach wissen Sie", sagt Freimut Aurich mit resignierter Stimme, "die meisten Beschäftigten denken hier doch nicht über den eigenen Tellerrand hinaus." Der Betriebsratsvorsitzende der Union Werkzeugmaschinen GmbH im sächsischen Chemnitz macht sich nach 18 Jahren Gewerkschaftsarbeit nur noch wenige Illusionen über die Möglichkeiten, seine Belegschaft zu wirkungsmächtigen Aktionen zu mobilisieren. Zu groß sei die Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg, zu klein die Überzeugung, dass man gemeinsam etwas erreichen könne. "Wir haben noch einen Organisationsgrand von 60 Prozent, das sind vor allem die, die schon seit Jahrzehnten Mitglieder sind. Bei den Jungen muss ich keinem mit der Gewerkschaft kommen."

ORGANISATIONSABSTINENZ_ Was Aurich in seinem Chemnitzer Betrieb beobachtet, ist kein Einzelfall. Vor allem in den neuen Bundesländern laufen die Gewerkschafter davon, und Nachwuchs gibt es kaum. Auf einen Gewerkschaftseintritt hier kommen sechs im Westen - dabei würde es gerade im Osten viele Gründe für die Arbeitnehmer geben, sich zu organisieren. Der wichtigste: das Geld. Noch immer liegen die Gehälter im Osten gut 20 Prozent unter denen im Westen, und auf den Gehaltstabellen, die in regelmäßigen Abständen erhoben werden, liegen ostdeutsche Städte wie Zwickau, Cottbus und Schwerin ganz hinten. So fühlen sich nach einer Umfrage des Nachrichtensenders n24 im Oktober 2007 auch drei Viertel der Ostdeutschen gegenüber ihren Mitbürgern im Westen benachteiligt.

Theoretisch wäre das eine wunderbare Ausgangsbasis für ver.di, IG Metall und Co, doch praktisch hat sich inzwischen die Einsicht durchgesetzt, dass das, was im Westen jahrzehntelang funktioniert hat, nicht auf den Osten übertragbar ist. Die Münchner Gewerkschaftsforscherin Ingrid Artus sieht "Riesenunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland in der Gewerkschaftslandschaft", sowohl in der Mitbestimmungskultur als auch im Organisationsgrad. "Im Osten sind die Gewerkschaften in weiten Teilen nicht wahrnehmbar, schon gar nicht als vertretungsmächtige Gruppierungen." Tauchten sie überhaupt im Bewusstsein der Beschäftigten auf, dann primär als "Schadensbegrenzer", nicht als kämpferische Vertreterinnen der Arbeitnehmerinteressen. Schutz sollen die Gewerkschaften bieten, vor Entlassungen und Betriebsschließungen. Dass man mit ihnen aber gemeinsame Sache gegen die Arbeitgeber macht, ist eher keine Option.

Einer der Gründe für ihre geringe Verankerung im Osten war die Entscheidung der West-Gewerkschaften nach der Wende, die Leute an der Basis des FDGB nicht einzubinden. "Ein Riesenfehler", so Michael Hofmann, Soziologieprofessor an der Universität Jena. "Die DDR-Gewerkschafter waren Experten des sozialen Lebens in den Betrieben und wussten, wie die Leute denken." Hätte man sie damals genutzt, um den Kontakt zwischen Gewerkschaften und Belegschaften zu pflegen, wäre es wohl nicht zu der Entfremdung gekommen, die heute beklagt wird. Doch indem man die alten Gewerkschafter links liegen ließ und stattdessen versuchte, die bewährten Strukturen des Westens einfach auf den Osten zu übertragen, schlug man sich selbst einen großen Teil der Gewerkschaftskultur weg. Weil es heute im Osten kaum noch Großbetriebe mit gesetzlich garantierter Aufsichtsrats-Mitbestimmung, sondern hauptsächlich kleine und mittelständische Unternehmen gibt, in denen es die Gewerkschaften traditionell schwer haben, einen Fuß in die Tür zu bekommen, wurde diese Lücke nie wieder richtig aufgefüllt.

Sieghard Bender, IG-Metall-Bevollmächtigter in Esslingen, ging nach der Wende nach Chemnitz - und merkte schnell, wie gravierend dieser Traditionsverlust war und wie sehr der seine Arbeit erschwerte. "Im Westen haben die Belegschaften jahrzehntelang immer wieder erfolgreich gekämpft - um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder geringere Arbeitszeiten. Da hat man einfach gemerkt, dass man in Zeiten, wo es den Unternehmen gut geht, auch für die Arbeitnehmer viel rausholen konnte, wenn man sich einig war. Das sind kollektive Erfahrungen, die im Osten fehlen."

SCHUTZBEDÜRFNISSE_ Mit dem Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft Anfang der 90er Jahre, der massenhaften Erfahrung von Arbeitslosigkeit und der ganz konkreten Bedrohung des sozialen Abstiegs erhofft man sich in den neuen Ländern von den Gewerkschaften vor allem Schutz. "In Chemnitz ging es vor allem um Rechtsberatung und Rechtsschutz, in Esslingen stehen immer noch Entlohnung und Arbeitsbedingungen im Mittelpunkt. Hier konnten wir nach den Pfingstferien innerhalb von zwei Stunden 14 Busse mit Beschäftigten füllen, die spontan eine Demonstration zu den aktuellen Verhandlungen zur Altersteilzeit gemacht haben. Das hätte in Chemnitz nie funktioniert", sagt Bender.

Die unterschiedlichen Erwartungen der Belegschaften führen auch zu unterschiedlichen Prioritäten in der Gewerkschaftsarbeit. Der Arbeitssoziologe Rudi Schmidt hat in einer großen Erhebung 750 Unternehmen in Ost und West untersucht und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass man sich in der ostdeutschen "Leidens- und Überlebensgemeinschaft" primär auf den Erhalt der Arbeitsplätze konzentriere. Die Professionalisierung der Betriebsräte sei hier geringer als im Westen, sie seien auch deutlich distanzierter in ihrem Verhältnis zu den Gewerkschaften - hätten dafür aber ein deutlich ausgeprägteres Verständnis für die Zwänge in ihren Unternehmen. Das hat auch Michael Hofmann beobachtet. "Die ostdeutschen Betriebsräte übernehmen aus Angst, dass der Betrieb den Bach runtergehen könnte, oft Unternehmerfunktionen. Dabei vertreten sowohl sie als auch die Manager im Osten überraschenderweise viel öfter und stärker neoliberale Werte als ihre Kollegen im Westen."

Das Resultat sind häufig Abschlüsse, in denen zwar den Bedürfnissen der Unternehmen Rechnung getragen wird, bei denen die Arbeitnehmer aber schlechter wegkommen. Flächentarifverträge sind dabei längst keine heiligen Kühe - verspricht man sich davon mehr Arbeitsplatzsicherheit, werden sie auch schnell zur Disposition gestellt. Wo man im Westen seine Rechte einfordert, versuchen die ostdeutschen Betriebsräte eher, Konflikte zu vermeiden. Das aber ist für die Beschäftigten im Westen nicht nur befremdlich und schürt ihre Einschätzung, die "Jammer-Ossis" ließen sich zu viel gefallen und seien an ihrer Misere selbst schuld, sondern ist auf Dauer auch gefährlich für den eigenen Geldbeutel. "Der Osten ist die Spielwiese für die Entstandardisierung", prognostiziert Michael Hofmann. "Was hier passiert, erreicht früher oder später auch den Westen."
Den wohl dramatischsten Beweis der gewerkschaftlichen Mentalitätsunterschiede erbrachte der gescheiterte Streik der IG Metall um die 35-Stunden-Woche in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie. Nach vierwöchigem Streik musste die Gewerkschaft im Juni 2003 ihre Niederlage eingestehen - und erkennen, dass nicht nur Arbeitgeber und große Teile der Medien wenig Verständnis für ihre Forderungen hatten, sondern auch die eigenen Mitglieder massive Zweifel hatten. Für "völlig unsinnig" hätten er und seine Kollegen damals die Forderung nach verkürzten Arbeitszeiten gehalten, erinnert sich Betriebsrat Freimut Aurich. "Für die Belegschaften war es überhaupt nicht wichtig, ob sie zwei Stunden pro Woche weniger arbeiten würden - die meisten hätten lieber genauso lang oder sogar länger gearbeitet, wenn damit eine ordentliche Tarifsteigerung gekommen wäre."

Auch Gewerkschaftsforscherin Artus ist überzeugt, dass die IG Metall damals völlig verkehrt argumentiert habe. "So wenig arbeiten zu müssen wie im Westen, war im Osten überhaupt nicht das Thema. Wichtig wäre gewesen, das Anliegen aus der Perspektive der Beschäftigungssicherung zu vermitteln." Für eine "strategische Fehleinschätzung westdeutscher Funktionäre" hält auch Soziologe Hofmann die damalige Entscheidung für den Streik. "So groß, wie man dachte, war das Selbstbewusstsein im Osten einfach nicht."

Die richtige Perspektive - das ist es, was den Gewerkschaften im Osten oft fehlt. Nur darauf zu warten, dass die Ostdeutschen selbstbewusster und kämpferischer werden und so auch irgendwann in Arbeitskämpfe gehen, wird nicht ausreichen. "Man muss die Leute im Osten viel mehr darüber aufklären, was die Gewerkschaft will und kann", sagt Nicole Wardenga. Die 26-Jährige ist gebürtige Chemnitzerin und ging nach dem Abitur nach Nürtingen, wo sie jetzt als Industriemechanikerin arbeitet und sich in der IG Metall engagiert. Obwohl viele ihrer Verwandten, die in Sachsen geblieben sind, wie sie in der Metallindustrie arbeiten, ist von ihnen keiner Gewerkschaftsmitglied. "Die denken, das kostet einfach nur Geld und bringt nichts. Die Gewerkschaft wird wahrgenommen wie eine Partei, mit einer Führung, die nur macht, was sie will."

Um dieses Bild zu verändern, empfiehlt Soziologe Hofmann den Arbeitnehmervertretern eine stärkere "lebensweltliche Öffnung". Sich nur auf betriebliche Interessenpolitik zu konzentrieren und allein die Interessen der Arbeitnehmer in den Blick zu nehmen, werde gerade im Osten das Absinken der Mitgliederzahlen nicht verhindern. Insgesamt seien hier das Bedürfnis nach Gerechtigkeit und die Anforderungen an gesellschaftliche Verantwortung höher. So hätten, meint Hofmann, die Gewerkschaften ihren Protest gegen die Hartz-IV-Gesetzgebung 2004 stärker artikulieren sollen, auch Ingrid Artus sieht darin eine vergebene Chance. Ohnehin hätten die Gewerkschaften bislang wenig Solidarität mit den Arbeitslosen gezeigt.

SZENARIEN VOM SOZIALEN ABSTIEG_ Der von den Experten empfohlene Perspektivwechsel ist allerdings nicht nur mit Blick auf den Osten dringend erforderlich. Noch können die Gewerkschaften im Westen zwar auf weit mehr Mitglieder und eine wesentlich ausgeprägtere Konfliktbereitschaft zurückgreifen, aber auch hier drohen Erosionen. Obwohl Nicole Wardenga sich über die Lethargie ihrer Ost-Verwandtschaft ärgert, beobachtet die Industriemechanikerin eine ähnliche Entwicklung auch im Nürtinger Betrieb. "Mittlerweile haben die Leute richtig Angst, wenn sie an irgendwelchen Aktionen teilnehmen sollen, dass der Chef sie sehen und ihnen Ärger machen könnte. Diskutiert wird zwar viel, und es gehört auch dazu, Gewerkschaftsmitglied zu sein, aber wirklich getan wird immer weniger."

Auch Sieghard Bender ist über diesen Trend beunruhigt. Er ist davon überzeugt, dass die Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg in Esslingen mittlerweile genauso groß ist wie in Chemnitz. "Die Leute hier haben richtig was zu verlieren: Haus, Wohnung, Auto. Im Osten gilt Arbeitslosigkeit ja nicht so stark als Makel, da hat ja fast jeder mindestens einen Fall in der Verwandtschaft oder im Freundeskreis. Aber im Westen glauben ja viele noch, wenn einer entlassen wird, wäre der selbst schuld."
So sind es die Sorgen um Arbeitsplatz und Existenz, die zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung die Arbeitnehmer in West und Ost verbinden. Für die Gewerkschaften wird der Umgang mit diesen Sorgen der Arbeitnehmer auch für ihre Zukunft entscheidend sein - sowohl hüben als auch drüben.

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