Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungInterview: „Anhaltender Verfall“
Katja Rietzler, Expertin für Steuer- und Finanzpolitik am IMK in der Hans-Böckler-Stiftung, über Ausmaß von und Gründe für den Substanzverzehr von öffentlicher Infrastruktur – vor allem in den Gemeinden. Die Fragen stellte Cornelia Girndt.
Die Substanz bröckelt. Was ist dran an der Behauptung, dass zu wenig in öffentliche Infrastruktur und damit in die Zukunft investiert wird?
Wir beobachten, dass der Staat seine Substanz verzehrt – und wir kritisieren das. Die öffentlichen Investitionen in Deutschland wachsen schon seit Jahrzehnten langsamer als das Bruttoinlandsprodukt. Seit Anfang der 1990er Jahre ist somit die öffentliche Investitionsquote deutlich gesunken. In den vergangenen zehn Jahren haben die öffentlichen Investitionen insgesamt nicht mehr ausgereicht, um die Abschreibungen auszugleichen. Wir können anhand dieser Daten sagen: Es findet ein anhaltender Verfall der Infrastruktur statt – vor allem bei den Kommunen.
Kann man den Investitionsstau beziffern?
Seit Einführung des neuen statistischen Konzepts „ESVG 2010“ Anfang September zählen auch Ausgaben für Forschung und Entwicklung zu den Investitionen. Dadurch sieht die Lage auf der Bundes- und Länderebene etwas rosiger aus. Für die Kommunen weisen aber auch die neuen Daten einen drastischen Substanzverzehr aus, der sich von 2003 bis 2013 auf fast 46 Milliarden Euro summiert. Das heißt: Die Substanz von öffentlichen Gebäuden, Schulen, Straßen, von wichtiger Infrastruktur verfällt, und es wird nicht entsprechend investiert.
Bundesbank und Sachverständigenrat halten dagegen. Sie sagen, es sei normal, dass nach der deutschen Vereinigung die öffentliche Investitionsquote wieder fiel, sie argumentieren, dass im öffentlichen Sektor privatisiert wurde, folglich die Neuinvestitionen geringer seien. Hält diese Argumentation stand?
Kaum. Die staatliche Investitionsquote ist zu Beginn der 1990er nur geringfügig gestiegen und nach wenigen Jahren wieder deutlich gefallen. Es ist kaum vorstellbar, dass mit diesen eher geringfügigen Bruttoinvestitionen der gesamte Nachholbedarf Ostdeutschlands gedeckt werden konnte. Also kann dies nur zulasten Westdeutschlands erfolgt sein. Was die Privatisierungen betrifft, wird deren Rolle überschätzt. Selbst der Sachverständigenrat macht den Fehler, den Rückgang der öffentlichen Investitionsquote mit Vorgängen wie der Privatisierung der Telekom und der Reform der Bahn zu begründen. Diese Unternehmen haben aber in der Abgrenzung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen auch vorher nicht zum Sektor „Staat“ gehört. Folglich können sie auch keinen Einfluss auf die staatliche Investitionsquote haben.
Bei den öffentlichen Investitionen geht es um Brücken, Bauten, Straßen. Wenn man jetzt viele Milliarden in die Hand nehmen würde, muss man da nicht auch ans Umsteuern denken – ökologischer, kleinteiliger –, statt schlicht die Großprojekte der 70er Jahre einfach zu sanieren und weiterzuführen?
Ich bin Makroökonomin und analysiere daher keine einzelnen Projekte, sondern mehr oder weniger aggregierte Daten. Welche Projekte im Einzelnen sinnvoll sind, muss die Politik und müssen die Bürger entscheiden. Da fangen wir natürlich nicht bei null an, sondern setzen bei der bestehenden Infrastruktur an. Wenn beispielsweise die Schleusen im Nordostsee-Kanal kaputt sind und lange Umwege gefahren werden müssen, hat das negative volkswirtschaftliche Auswirkungen. Oder der erschütternde Zustand vieler Schulen: Das beeinträchtigt die Arbeits- und Lernbedingungen.
Zeigt sich hier, wohin die Idee des schlanken Staates führt?
Im Vergleich von 32 Industrieländern ist Deutschland das Land mit dem zweitniedrigsten öffentlichen Ausgabenwachstum – im Zeitraum von 1999 bis 2012. Nur im deflationsgeplagten Japan war der Anstieg der öffentlichen Ausgaben noch geringer. Hierzulande sind sowohl die staatlichen Konsumausgaben – dazu zählen etwa Lehrergehälter – als auch die Investitionsausgaben nur sehr geringfügig angestiegen.
Selbst im europäischen Vergleich schneidet das wohlhabende Deutschland bei den öffentlichen Investitionen eher unterdurchschnittlich ab. Wie lässt sich das alles erklären?
Der Substanzverzehr ist Folge einer Sparpolitik seit Beginn der 2000er Jahre. Damals wurde die Einnahmenbasis des Staates durch einen starken Konjunktureinbruch und drastische Steuersenkungen geschwächt. Als das staatliche Defizit über die Maastricht-Grenze von drei Prozent stieg, wurde darauf mit einem prozyklischen Sparkurs reagiert. Diesem fielen insbesondere die öffentlichen Investitionen zum Opfer. Für die Kommunen kam verschärfend hinzu, dass ihnen zunehmend Sozialausgaben aufgebürdet wurden, ohne dass entsprechende Einnahmen zur Verfügung gestellt wurden. So blieb ihnen kaum etwas anderes übrig, als Investitionen zurückzufahren und verstärkt kurzfristige Kassenkredite aufzunehmen.
Wie problematisch sind diese sogenannten Kassenkredite?
Kassenkredite dienen eigentlich der Überbrückung kurzfristiger Liquiditätsengpässe. In der Vergangenheit sind sie auch immer wieder schnell getilgt worden. Insbesondere seit Anfang der 2000er Jahre ist ihr Bestand aber drastisch und dauerhaft angestiegen und macht inzwischen rund 50 Milliarden Euro aus. Dabei gibt es große regionale Unterschiede: Besonders im Saarland, in Rheinland-Pfalz, in Nordrhein-Westfalen und in Hessen sind die Bestände an Kassenkrediten hoch. Das beeinträchtigt die Fähigkeit zu investieren, hier besteht ein direkter Zusammenhang. Eine Lösung des Problems muss daher in den finanzschwachen Kommunen ansetzen.
Wie kann ihnen geholfen werden?
Sie müssen von steigenden Sozialkosten entlastet werden. Das sogenannte Konnexitätsprinzip („Wer bestellt, der bezahlt“) muss zügig umgesetzt werden. Erfreulicherweise passiert derzeit einiges. So übernimmt der Bund die vollen Kosten für die Grundsicherung im Alter. Ab 2015 erhalten die Kommunen einen höheren Anteil von der Umsatzsteuer und werden bei den Kosten der Unterkunft für Langzeitarbeitslose weiter entlastet. Weitere Entlastungen müssen schnell folgen. Zusätzlich brauchen sehr hoch verschuldete Kommunen Hilfen beim Abbau der Kassenkredite. Die öffentliche Daseinsvorsorge darf durch die Konsolidierung nicht gefährdet werden.
Wie viel Geld muss fließen, damit der Investitionsstau überwunden werden kann?
Fasst man die verfügbaren Studien – beispielsweise zur Verkehrsinfrastruktur oder zum Bedarf bei den Gemeinden – und die verfügbaren Makrodaten zusammen, so lässt sich leicht ein Mehrbedarf von über zehn Milliarden Euro jährlich für den Staat insgesamt ermitteln – und das über einen längeren Zeitraum.
Woher soll das Geld kommen?
In der Tat sind durch die Schuldenbremse und den Fiskalpakt einer Kreditfinanzierung von Investitionen sehr enge Grenzen gesetzt. Auch eine verstärkte Nutzerfinanzierung durch eine Ausweitung der Maut ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. An Steuererhöhungen führt daher kaum ein Weg vorbei. Eine Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen eignet sich dafür am besten. Das belastet die Konjunktur am wenigsten und ist auch aus verteilungspolitischen Gründen angezeigt.