Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Angriff auf demokratische Traditionen
USA Die US-Konservativen haben den Gewerkschaften den Kampf angesagt. Als willkommener Anlass dient die dramatische Verschuldung der öffentlichen Haushalte. Doch der Widerstand wächst. Von Lee Adler, Otto Jacobi, Lowell Turner
LEE ADLER ist Arbeitsrechtler, OTTO JACOBI, Visiting Professor, und LOWELL TURNER, Professor für internationale Arbeitsbeziehungen an der Cornell University, Ithaca, New York/Foto: Robert Durell, AP Photo
Die USA haben an Selbstbewusstsein verloren, das Land ist in eine Schieflage geraten. Wie groß die Unsicherheit in der Bevölkerung ist, zeigt die Niederlage der Demokraten bei den Wahlen im vorigen November, gerade mal zwei Jahre nach Obamas triumphalem Wahlsieg. Die Enttäuschung über die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit hat zu einer Protestwahl zugunsten der Republikaner geführt, die seither in Washington die Mehrheit im Repräsentantenhaus haben und die führende Kraft in den meisten Bundesstaaten sind. Erfolgreich konnten sie die Ängste vieler Amerikaner in eine Kampagne gegen den überschuldeten Staat umwandeln. Die Republikaner versprachen, das Land wieder auf die richtige Spur zu setzen. Ziel ist ein Richtungswechsel - weg von Obamas keynesianischer Wirtschaftssteuerung, weg von der Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur und vom Ausbau sozialer Sicherungssysteme. Dabei bedienen sie sich eines Politikrezeptes, das aus einem Dreieck von populistischem Patriotismus, wirtschaftspolitischer Abstinenz und machtpolitischer Absicherung besteht. Die Republikaner reden von der Rückkehr zu traditionellen Werten, marschieren in Wahrheit aber auf eine moderne Variante autoritärer Herrschaft zu - mit einem Heer ungebildeter und billiger Arbeitskräfte.
DIE SCHULDENKRISE_ Tatsächlich ist die Situation der öffentlichen Haushalte dramatisch. Die europäische Schuldenkrise verblasst, wenn man die amerikanische sieht. Die Schulden des Bundes summieren sich in naher Zukunft auf 100 Prozent des BIP, das sind rund 15 Billionen Dollar. Diese Verschuldungskrise ist die Folge übermäßiger Militärausgaben seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der anfangs der 1980er Jahre einsetzenden neoliberalen Wirtschaftspolitik. Dramatisch zugespitzt hat sie sich unter Präsident Bush - durch die Kriege in Irak und Afghanistan, den Zusammenbruch des Immobilienmarktes und den Kollaps des Finanzmarktes. Doch diese Zusammenhänge wollen nur wenige sehen.
Mit ihrer neuen Mehrheit im Repräsentantenhaus wollen die Republikaner noch in diesem Jahr 100 Milliarden Dollar einsparen. Viele bildungs-, kultur-, umwelt-, gesundheits- und sozialpolitische Programme stehen auf der Kippe, und zwar umso mehr, je strikter sie die Kürzung von Militärausgaben für tabu erklären.
Denn bei Militär und Geheimdiensten soll substanziell nichts geändert werden. Da nehmen die Republikaner viel Geld in die Hand und stellen ihre hehren Vorstellungen von einer schlanken Regierung zurück. Während nach innen die Zivilgesellschaft durch die Auszehrung der sozialen Infrastruktur mit der Konsequenz weiterer Ausgrenzung großer Teile der Bevölkerung geschwächt wird. Und die Beschäftigten im öffentlichen Dienst zu Sündenböcken erklärt werden, die die Steuergelder gefräßig in sich aufsaugen.
DER REPUBLIKANISCHE DURCHMARSCH_ Die Konfrontation mit den öffentlich Beschäftigten und ihren Gewerkschaften vollzieht sich in Bundesstaaten mit republikanischer Führung. Die Staaten und ihre Kommunen stellen die Mehrheit der Zivilangestellten. Die Gesamtheit der Bundesstaaten verzeichnet Haushaltsdefizite, die sich auf rund 100 Milliarden Dollar addieren. Selbst New York City, übersät mit Profit scheffelnden Unternehmen und seiner protzend-elitären Stadtgesellschaft, schließt Schulen aus Geldmangel. Eine Reihe von Städten hat bereits Insolvenz angemeldet, das Ranking von Anleihen einzelner Bundesstaaten wurde herabgesetzt. Diese Situation zwingt zu einem radikalen Sparkurs. Während in den von den Demokraten geführten Staaten ein sozialverträglicher Ausgleich durch die Einbeziehung der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften angestrebt wird, suchen die republikanisch geführten Staaten die Konfrontation mit ihren Beschäftigten.
Die Vorreiter sind Wisconsin, Ohio und New Jersey. Was bei Ohios Gouverneur John Kasich ganz harmlos klingt - "This is nothing more than an effort to reduce the cost of governance so we can start to create jobs" -, ist unterfüttert mit allen konservativ-populistischen Glaubensbekenntnissen und ausgestattet mit einem vollen Arsenal anti-gewerkschaftlicher Waffen. Ein führender republikanischer Politiker, Tim Pawlenty, hat das im "Wall Street Journal" so ausgedrückt: "Unionized public employees are making more money, receiving more generous benefits, and enjoying greater job security than the working families forced to pay for it with ever-higher taxes, deficits and debt."
Jeder Dollar, den der Staat für steuerfressende Programme und sozial gehätschelte Beschäftigte ausgibt, schwächt die Wachstum und Beschäftigung kreierende Investitionsbereitschaft der privaten Wirtschaft, so das wirtschaftspolitische Credo. Dass die Ausgaben für Militär und Geheimdienste nicht als Vergeudung von Steuergeldern, sondern als systemstabilisierend gelten, verschleiert nur notdürftig den Widerspruch im konservativen Denken: Einerseits wird einer möglichst staatsfreien Gesellschaft das Wort geredet, andererseits werfen die Republikaner einem staatlichen Gewaltapparat Geld in einem Umfang hinterher, der größer ist als alle Militärausgaben im Rest der Welt. Das republikanische Credo schließt Steuererhöhungen aus, insbesondere für die Reichen, denn deren Ausgaben gelten als die Grundlagen für mehr Beschäftigung. Umgesetzt in die Praxis einzelstaatlicher Haushaltspolitik heißt das: Streichung von Investitionen in die öffentliche Infrastruktur einschließlich des Zuschusses für den Public Broadcasting Service (PBS), der amerikanischen Variante des nicht-kommerziellen öffentlich-rechtlichen Fernsehens; Kürzung von Bildungsausgaben bis hin zu Schulschließungen; Einsparungen bei Gesundheits- und Sozialausgaben; Entlassung von Beschäftigten, allein in New York City über 4000 Lehrer; Erhöhung der Abgaben zur Rentenversicherung; Lohnstopp oder Begrenzung von Lohnerhöhungen auf die Inflationsrate.
Eine besondere Pointe erhält der republikanische Zugriff durch das erklärte Ziel, Gewerkschaftsrechte zu streichen. So wird aus einem haushaltspolitischen Sanierungsprogramm ein machtpolitisches Säuberungsprogramm. Den Gewerkschaften, politisch eng mit der Demokratischen Partei verbunden, wird der Missbrauch ihrer partei- und verhandlungspolitischen Macht zulasten der Steuerzahler vorgeworfen. Die Republikaner verstehen ihre Wahlsiege vom vergangenen Herbst nicht zuletzt als Auftrag, die Gewerkschaften zurechtzustutzen.
Ausgerechnet Wisconsin, der Staat, der 1959 als Erster das Recht seiner Beschäftigten auf Kollektivverhandlungen einführte, nimmt es jetzt wieder zurück. Die Gewerkschaften dürfen nur noch den Grundlohn verhandeln, Verhandlungen über Arbeitszeit, Urlaub und Beiträge zur Sozialversicherung sind abgeschafft. Ferner sollen sie sich in jährlichen Abstimmungen von den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes ihre Anerkennung als Verhandlungspartner und ihr Recht auf Einziehung von Gewerkschaftsbeiträgen bestätigen lassen. Letzteres gilt auch für Kostenerstattung durch Nichtmitglieder, die ebenfalls von einem gewerkschaftlich ausgehandelten Kollektivvertrag profitieren und deshalb einen Teil der Kosten tragen.
DIE GEGENWEHR DER GEWERKSCHAFTEN_ Die Gewerkschaften haben besonders in Wisconsin mit großen Massendemonstrationen reagiert. Hunderttausende haben sich beteiligt, tagelang war das State Capitol besetzt. Doch ihre Handlungspotenziale sind begrenzt.
Die amerikanischen Gewerkschaften befinden sich in einem schlechten Zustand. Wie das Bureau of Labor Statistics kürzlich meldete, fiel die Zahl der Mitglieder auf den niedrigsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg. Rund 15 Millionen Amerikaner sind organisiert, je zur Hälfte im privaten und öffentlichen Sektor, das entspricht einem Organisationsgrad von zwölf Prozent. Allerdings ist - und hier liegt für Gewerkschaften und Republikaner gleichermaßen die Herausforderung - die Verteilung auf Privatwirtschaft und den öffentlichen Dienst höchst ungleich. Im privaten Sektor sind nur noch sieben Prozent gewerkschaftlich organisiert, im öffentlichen Sektor jedoch 36 Prozent. In einigen Bundesstaaten liegen die Organisationsgrade im öffentlichen Dienst weitaus höher: in New York State bei 70 Prozent und in Kalifornien bei 57.
Erschwerend kommt hinzu, dass das republikanische Mantra vom Geld fressenden Staat auch in der gewerkschaftlichen Mitgliedschaft seine Wirkung entfaltet. In einzelnen Bundesstaaten unterstützen einflussreiche Gewerkschafter in politischen Ämtern restriktive Formen von Haushaltspolitik. In anderen beteiligen sich die Gewerkschaften an Rationalisierungsprojekten. Das schafft Spannungen. Noch problematischer wird es, wenn einzelne Gewerkschaften Verständnis für Gehaltskürzungen öffentlich Bediensteter mit dem "Argument" aufbringen, sie hätten das alles bereits hinter sich, und es sei nur fair, wenn es auch andere träfe.
Dabei lässt sich die gängige Behauptung, dass die öffentlich Bediensteten überbezahlt und mit Zusatzleistungen überschüttet werden, empirisch widerlegen. Im landesweiten Durchschnitt sind öffentlich Beschäftigte ohne College-Abschluss etwas besser gestellt als die privat Beschäftigten. Mit College-Abschluss dagegen verdient man in der Privatwirtschaft häufig mehr. Doch sind die regionalen Unterschiede beträchtlich: ein Effekt, der in hohem Maße auf die unterschiedliche Stärke der Gewerkschaften zurückzuführen ist. Allerdings schlagen sonstige Lohnleistungen wie günstige Beiträge zur Sozialversicherung und gute Pensionsleistungen zugunsten der öffentlich Beschäftigten zu Buche. Auch Arbeitszeiten und Arbeitsplatzsicherheit sind im öffentlichen Sektor günstiger.
Der Konflikt ist derzeit noch in vollem Gange. Die Gewerkschaften scheinen die Strategie zu verfolgen, Kompromissbereitschaft beim Geld und Härte bei der Einschränkung von kollektiven Verhandlungsrechten zu zeigen. Flankierend versuchen sie, Allianzen mit Bevölkerungsgruppen herzustellen, die von Einschnitten in die öffentliche Infrastruktur besonders betroffen sind. Sie kümmern sich um obdachlose Kinder, treten für Schulessen ein, wollen ökologische und technische Erziehung fördern. Besonders vehement stellen sie sich Schulschließungen entgegen, die zu übergroßen Klassen woanders, in meist ebenso sozial benachteiligten Distrikten führen.
WO BLEIBT DIE OBAMA-KOALITION?_ Die Arbeiterschaft ist tief verunsichert. Was vordergründig ein lohnpolitischer Konflikt zwischen staatlichen Arbeitgebern und ihren Bediensteten zu sein scheint, ist in Wahrheit eine Auseinandersetzung über die Richtung, die das Land nimmt. Die Republikaner mögen mit ihrem rigorosen Vorgehen kurzfristig Erfolge erzielen. Jüngsten Wählerumfragen zufolge könnten sich diese aber in Pyrrhussiege umkehren. Der Richtungskampf zwischen einem rückwärts gewandten "Tea Party America" und einem "sustainable America" ist noch lange nicht entschieden. Eine progressive Gegenbewegung in Form einer breiten Obama-Koalition kündigt sich an. Es bleibt zu hoffen, dass der populistisch-konservativ-republikanische Ansturm einen Weckruf auslöst, die große demokratische Tradition des Landes gegen den autoritären Zugriff zu verteidigen.
Wisconsin, Ohio, Michigan - Gesetze gegen Arbeitnehmerrechte (pdf zum Download)
Durchschnittliche Löhne in den USA (Zahlen, pdf zum Download)
Unter www.epi.org bietet das Economic Policy Institute, ein wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Thinktank in Washington, D.C., Analysen und Empirie.