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Symbolbild zu Barrierefreiheit Magazin Mitbestimmung

Barrierefreiheit: Am besten gleich anfangen

Ausgabe 05/2024

Ab Mitte 2025 müssen laut Barrierefreiheitsstärkungsgesetz wichtige digitale Dienstleistungen und Produkte barrierefrei sein. Ein Thema auch für Betriebs- und Aufsichtsräte. Von Antonia Seeland

Digitale Dienstleistungen und Produkte müssen ab dem 28. Juni 2025 für Menschen mit Behinderungen ohne Hilfe nutzbar sein. Das gilt beispielsweise für den Onlinehandel, für Reiseinformationen, Selbstbedienungsterminals wie Fahrkarten- und Geldautomaten, Computer, Smartphones, Websites von Bank- und Finanzdienstleistern oder E-Books.

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) verpflichtet erstmalig private Akteure, also beispielsweise Unternehmen und Verbände, zur Barrierefreiheit. Der Bedarf an barrierefreien Produkten und Dienstleistungen ist groß. Für etwa zehn Prozent der Menschen in Deutschland sind sie unerlässlich, weil diese Personen konventionelle Angebote nicht nutzen können, für weitere etwa 30 Prozent sind sie notwendig, weil diese Produkte die Nutzung digitaler Angebote stark erleichtern.

Ein Test der Aktion Mensch zeigte, dass drei Viertel der beliebtesten Webshops in Deutschland nicht barrierefrei sind. Eben mal online ein Geburtstagsgeschenk kaufen oder eine Überweisung tätigen ist für Menschen mit Behinderungen oft nicht möglich. Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz greift daher ein großes Problem im Alltag dieser Menschen auf. Auch wenn das BFSG von „Menschen mit Behinderungen“ spricht, helfen barrierefreie Produkte auch vielen anderen, etwa Älteren, die schlecht sehen oder motorische Einschränkungen haben, aber auch Menschen mit temporären Beeinträchtigungen wie Migräne.

Das Gesetz war ein längst überfälliger, wenn auch nur ein erster Schritt, um Menschen mit Einschränkungen besser und selbstbestimmt an der digitalisierten Gesellschaft und Umwelt teilhaben zu lassen.

Nach der Definition bedeutet barrierefrei, dass Produkte und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich, nutzbar und auffindbar sein müssen. Reise- und Fahrgastinformationen etwa müssen über mehr als einen sensorischen Kanal bereitgestellt werden (etwa schriftlich und über Sprachausgabe). E-Books, Formulare oder AGB müssen eine klare Schrift haben und technisch so gestaltet sein, dass sie kompatibel mit Screenreadern sind, die die Texte vorlesen. Die Angebote müssen zudem ohne Maus und per Tastatur bedienbar sein.

Wirtschaftsakteure, die digitale Dienstleistungen oder Produkte zuliefern, herstellen, vertreiben oder importieren. Ausgenommen sind nur Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten und mit maximal zwei Millionen Euro Jahresumsatz.

Barrierefreiheit ist eine Aufgabe für viele Akteure im Unternehmen. Deshalb sollte eine zentrale Stelle, quasi eine Taskforce, damit beauftragt werden. Wichtige Schritte sind, die Anforderungen für das Unternehmen zu prüfen,
eine Ist-Analyse vorzunehmen und entsprechend Maßnahmen zu planen, Designs anzupassen und sie  gemeinsam mit Betroffenen zu testen. Inklusion und Barrierefreiheit müssen in der Unternehmenskultur verankert
werden. Dabei helfen auch Schulungen.

Für Interessenvertretungen in Betrieben, die vom BFSG erfasst sind, entsteht ein gute Gelegenheit, um digitale Barrierefreiheit auch für die Beschäftigten einzufordern. Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung (SBV) als Förderer der betrieblichen Inklusion (§ 80 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG, §§ 176, 178 SGB IX) sollten unbedingt prüfen, wie sie die Neuerungen auch für die eigene Belegschaft nutzen können. Es könnten Maßnahmen wie die barrierefreie Gestaltung des Intranets beantragt werden (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG). Der Betriebsrat und die SBV können auch Inklusionsvereinbarungen oder Betriebsvereinbarungen anregen, etwa zur barrierefreien Gestaltung von Qualifizierungsmaßnahmen, IT-Medien wie Software, Apps oder Vorlagen.

Mit der CSRD, der Corporate Sustainability Reporting Directive, sind Unternehmen verpflichtet, im Nachhaltigkeitsbericht über positive und negative Auswirkungen ihrer Produkte und Dienstleistungen für Verbraucher zu berichten, vorausgesetzt, sie erachten ein Thema als wesentlich. Unterliegen Unternehmen dem BFSG, sollte das für eine Berichtspflicht sprechen, zumal im Fall von Verstößen Produkte vom Markt genommen werden und Bußgelder drohen. Bei der Erarbeitung sind Betriebsräte einzubeziehen (Art. 19a Abs. 5 CSRD). Sie sollten unbedingt auf die Qualität der Informationen achten. Im Rahmen seiner Prüfung des Nachhaltigkeitsberichts sollte auch der Aufsichtsrat das BFSG auf dem Schirm haben. Es empfiehlt sich, dass der Betriebsrat von seinem Recht Gebrauch macht und dem Aufsichtsrat eine Stellungnahme zum Bericht zukommen lässt.

Für bestimmte Dienstleistungen gibt es eine Frist von fünf Jahren. Für Selbstbedienungsterminals ist sogar eine extrem lange Frist von 15 Jahren vorgesehen. Beides betrifft insbesondere die Fälle, in denen Dienstleistungen oder Terminals vor dem 28. Juni 2025 eingesetzt werden.

ANTONIA SEELAND, Arbeitsrechtlerin am Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Hans-Böckler-Stiftung

Mehr zum Thema:

Die Bundesfachstelle Barrierefreiheit bietet ein Beratungsangebot insbesondere für Kleinstunternehmen.
Auch die Leitlinien des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales geben Orientierung, ebenso das Material auf der Website der Bundesfachstelle und der Aktion Mensch.
 

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