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Illustration zum Investitionsbedarf: Deutschlandkarte auf die von oben Geldscheine und Münzen herabregnen Magazin Mitbestimmung

Wirtschaftsforschung: 600 Milliarden braucht das Land

Ausgabe 04/2024

In einem gemeinsamen Gutachten haben das IMK der Hans-Böckler-Stiftung und das Institut der deutschen Wirtschaft eine gewaltige Investitionslücke berechnet. Die gute Nachricht: Der Staat könnte sie schließen. Von Sebastian Dullien, Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung

Es gab einmal Zeiten, da blickten andere Länder voller Neid auf die verlässliche Infrastruktur in Deutschland. Das ist leider Vergangenheit. Die Verspätungen und Zugausfälle der Deutschen Bahn während der Fußballeuropameisterschaft frustrierten nicht nur viele ausländische Gäste, sie schafften es sogar in die New York Times. Das Fazit des Artikels über den maroden Zustand des deutschen Bahnnetzes: Man kann vielleicht die deutsche Fußballelf schlagen, aber die Deutsche Bahn mit ihrer Unzuverlässigkeit erledigt alle. Die Infrastruktur hierzulande ist längst zu einem internationalen Imageproblem für das Land geworden und droht sogar ausländische Investoren abzuschrecken.

Über die vergangenen Jahrzehnte hat der Staat in Deutschland zu wenig in die Modernisierung und Instandhaltung von Straßen, Brücken, Schienenwegen, Kanälen und Schulgebäuden investiert. Undichte Dächer in Schulen, gesperrte Autobahnbrücken, Zugausfälle und Verspätungen gehören längst zum Alltag in Deutschland. Seit Jahren versucht Deutschland, eine Volkswirtschaft im 21. Jahrhundert mit einer Infrastruktur zu betreiben, die in vielen Fällen auf dem technischen Stand des vergangenen Jahrtausends stehen geblieben ist.

Nicht genug, dass der Staat nicht ausreichend investiert hat: Zugleich ist die Bevölkerung – vor allem durch Zuwanderung – deutlich gewachsen, während die Experten eigentlich längst schrumpfende Bevölkerungszahlen vorausgesagt hatten. Hinzu kommen enorme Ausgaben für die Digitalisierung und den Wandel zu einer klimaneutralen Wirtschaft und Gesellschaft.

Investitionsbedarf in den vergangenen fünf Jahren erheblich gewachsen

Zusammen mit dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung nun versucht, die Summe der notwendigen Investitionen zu berechnen. Eine erste derartige Studie hatten die beiden Institute schon 2019 vorgelegt. Damals taxierten sie den zusätzlichen öffentlichen Investitionsbedarf über zehn Jahre auf rund 460 Milliarden Euro.

Das 2024er-Update berücksichtigt veränderte Rahmenbedingungen, beispielsweise Preiserhöhungen bei Bauinvestitionen, den seit der ersten Studie bereits „abgearbeiteten“ Investitionsbedarf sowie die aktuelle mittelfristige Finanzplanung des Bundes. Der Haushaltskompromiss 2025 war zum Zeitpunkt der Schätzung noch nicht bekannt, er ändert aber nichts Grundsätzliches, da er in puncto Investitionen kaum Impulse setzt.

Das Ergebnis: Der Investitionsbedarf ist in den vergangenen fünf Jahren erheblich gewachsen. Rund 600 Milliarden Euro zusätzliche öffentliche Investitionen, auf die kommenden zehn Jahre verteilt, sind inzwischen notwendig, um das Land zukunftsfest zu machen. Zusätzlich notwendige Verteidigungsausgaben sind dabei noch nicht berücksichtigt.

Größter Posten im Gesamtpaket sind die Investitionen für den Wandel zu einer klimaneutralen Wirtschaft und Gesellschaft. Sie belaufen sich auf 200 Milliarden Euro. Dahinter verbergen sich die energetische Sanierung öffentlicher Gebäude, die Förderung solcher Sanierungen bei privaten Gebäuden, staatliche Anteile beim Ausbau von Strom- und Wasserstoffkernnetz sowie die Umstellung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) auf emissionsfreien Antrieb.

Der Bedarf bei den Städten und Gemeinden beläuft sich auf 177 Milliarden Euro. Darunter fallen vor allem die Sanierung und der Bau öffentlicher Verwaltungs- und Schulgebäude sowie die Instandsetzung und der Ausbau kommunaler Straßen und Wege. Weitere große Posten sind die Förderung des Wohnungsbaus, des Schienennetzes, der Ausbau des ÖPNV und der Bundesfernstraßen.

Dieses Investitionspaket sorgt nicht nur für mehr Lebensqualität im Alltag, sondern auch für mehr Produktivität und am Ende für mehr private Investitionen: Eine Ingenieurin, die im Stau auf der Autobahn steht oder im liegen gebliebenen ICE sitzt, kann in dieser Zeit nicht beim Kunden ihres Arbeitgebers eine Maschine reparieren. Sie ist in der Zeit nicht produktiv, kostet aber ihren Arbeitgeber Geld. Für Ansiedlungsentscheidungen wiederum spielt die Infrastruktur eine wichtige Rolle. Sowohl für den E-Autobauer Tesla in Grünheide als auch für den Batteriehersteller Northvolt in Heide waren Bahnanschlüsse eine wichtige Voraussetzung zung für den Zuschlag. Und wenn ein Anlagenbauer wegen maroder Autobahnbrücken für den nächtlichen Schwerlasttransport großer Maschinenteile drei Tage statt einen Tag braucht, fällt die Entscheidung für die Ersatzinvestition dann doch vielleicht gegen Deutschland.

  • Illustration zum Investitionsbedarf in Deutschland
    In allen Sektoren werden Investitionen benötigt, um Deutschland wieder zukunftsfest zu machen.

Die Summe von 600 Milliarden Euro mag sich zunächst erschreckend anhören. Allein durch Umschichtungen in den öffentlichen Haushalten lässt sich eine solche Summe nicht zusammenbekommen. Die finanzielle Verfügungsmasse ist zu gering, da ein Großteil der dort eingestellten Posten gesetzlich oder durch Verfassungsgerichtsurteile festgeschrieben ist, etwa Zuschüsse für die Rentenversicherung oder ein gewisses Niveau der Grundsicherung.

Ökonomisch bietet sich eine andere Lösung an: die Kreditaufnahme. Auf zehn Jahre verteilt, entsprechen 600 Milliarden Euro weniger als 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr. Diese Summe ließe sich zusätzlich zum Kreditspielraum der Schuldenbremse über höhere Staatsverschuldung finanzieren, ohne dass die Schuldenquote steigen würde. Zwar würde der absolute Schuldenstand, gemessen in Euro, zulegen, da aber auch das Bruttoinlandsprodukt über die Zeit steigt, bleibt die Schuldenquote konstant.

Das Problem ist allerdings die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse: Sie erlaubt nicht ohne Weiteres, diese Investitionen über weitere Kreditaufnahmen zu finanzieren. Stattdessen begrenzt sie die strukturelle öffentliche Neuverschuldung auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr – egal, ob dieser Kredit für Konsum, Investitionen, Sozialtransfers oder Steuersenkungen ausgegeben wird. Auch wenn die Zinsen null oder negativ sind, wie sie es über Jahre waren, darf der Staat keine zusätzlichen Kredite aufnehmen und damit Investitionen etwa in frühkindliche Bildung finanzieren.

Schuldenbremse reformieren

Längst mehren sich die Stimmen für eine Reformierung der Schuldenbremse. Zu der langen Liste der Reformbefürworter gehören die Bundesbank, der Internationale Währungsfonds, der Sachverständigenrat zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz.

Auch IMK und IW setzen sich in ihrer aktuellen Studie für eine Reform der Schuldenbremse ein. Aus Sicht des IMK wäre es am sinnvollsten, eine „goldene Regel“ einzuführen, unter der künftig öffentliche Investitionen auch durch Kredite finanziert werden können. Die Logik einer solchen Regel wäre, dass zusätzliche Kredite für Investitionen nicht zum Nachteil künftiger Generationen gehen, weil man ihnen ja nicht nur einen Teil der Finanzierungslasten, sondern auch einen erhöhten Kapitalstock hinterlässt.

Kritiker sehen die Gefahr, dass die Politik eine solche Regel missbrauchen könnte, indem beispielsweise bisher aus dem Haushalt finanzierte Investitionen über Kredit finanziert werden oder indem Projekte ohne positive Wachstumseffekte als Investitionen deklariert werden. Beides ließe sich allerdings verhindern. So könnte man ein überparteiliches Gremium entscheiden lassen, ob Zweifelsfälle wirklich Investitionen sind, und zusätzliche Kredite nur bei einem Anstieg der Investitionsausgaben zulassen.

Leider steht aber eine andere große Hürde einer Reform der Schuldenbremse entgegen: Notwendig ist eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Selbst wenn Finanzminister Christian Lindner und seine FDP etwas mehr ökonomische Vernunft in der Schuldendebatte zeigten und einer Reform zustimmten, wären solche Mehrheiten ohne die Union nicht möglich. Eine Reihe christdemokratischer Ministerpräsidenten hat schon signalisiert, dass sie mehr Spielraum für zusätzliche Investitionen für sinnvoll halten. Allerdings ist es rein machtpolitisch für die Union wenig attraktiv, vor den nächsten Bundestagswahlen der Ampel-Regierung bei einer Reform der Schuldenbremse entgegenzukommen.

So leiden das Land, unsere Wettbewerbsfähigkeit und unsere Lebensqualität. Wichtige Weichen für die Zukunft werden nicht gestellt. Es bleibt zu hoffen, dass sich die relevanten Politikerinnen und Politiker aller demokratischen Parteien dazu durchringen, ihr parteipolitisches Machtkalkül und ihr ideologisches Festhalten an der Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form zu überwinden und die notwendige Investitionsagenda schnell auf den Weg zu bringen. Die Investitionslücke in Deutschland ist real. Die Zukunftsherausforderungen unseres Landes auch. Es gilt, keine Zeit mehr zu verschwenden.

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