Quelle: Uli Deck
Magazin Mitbestimmung: Die schwierige Wahl der Wahl
Die Technik macht es längst möglich: Beschäftigte könnten ihren Betriebsrat auch online wählen. Doch selbst Computerexperten empfehlen bei Wahlen Papier. Von Andreas Schulte
Als die Nemetschek-Belegschaft zur Betriebsratswahl gerufen wurde, zog es nicht einen der Beschäftigten zur Wahlurne. Keiner der 3000 Mitarbeiter des in München beheimateten Softwareentwicklers für die Bau- und Planungsbranche fand im vergangenen Herbst den Weg ins Wahllokal, keiner setzte an einem der weltweit 82 Standorte des Unternehmens ein Kreuzchen auf einen Bogen Papier. Der Grund nicht etwa mangelndes Interesse oder Behinderungen der Wahl durch den Arbeitgeber – die Wahl bei Nemetschek, einer Aktiengesellschaft nach europäischem Recht (SE), fand komplett online am Rechner statt. Dem Management und dem Betriebsrat erschien dieses Vorgehen praktischer und schlanker als die übliche Papierwahl.
Für Konzernsprecherin Ulrike Beringer liegen die Vorteile klar auf der Hand. „Die Nemetschek Group ist in Europa an zahlreichen Standorten vertreten, eine Onlinewahl war daher sehr einfach in der Abwicklung, es wurden zum Beispiel keine lokalen Wahlbüros benötigt“, erklärt sie. „Alle Informationen konnten online zur Verfügung gestellt werden.“ Probleme bei der Organisation habe es nicht gegeben, die Akzeptanz innerhalb der Belegschaft sei gut gewesen. Und die Wahlbeteiligung? „Je nach Land zwischen 30 und 73 Prozent. Damit war auch der Betriebsrat sehr zufrieden.“
Mit der Onlinewahl nutzt Nemetschek eine Möglichkeit, die das europäische Recht bietet, den meisten deutschen Unternehmen aber derzeit verwehrt bleibt. Das deutsche Betriebsverfassungsgesetz sieht virtuelle Wahlen nicht vor – auch nicht nach der Verabschiedung des Betriebsrätemodernisierungsgesetzes durch den Bundestag Mitte Mai. Dabei scheint es doch gerade jetzt Anlass genug für die Zulassung von Onlinewahlen zu geben: Corona hat den Trend zum Homeoffice befeuert, außerdem setzen Unternehmen zunehmend auf verstreutes Crowdworking ohne zentrale Betriebsstätte.
Entsprechend breit ist mittlerweile die Koalition der Fürsprecher von Betriebsratswahlen via Internet. Sie reicht von der FDP und der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände über den CDU-Bundestagsabgeordneten und Metallgewerkschafter Uwe Schummer („Eine Wahl darf nicht nur dort möglich sein, wo ein Schwarzes Brett in einer dunklen Fabrikhalle hängt“) bis zu den Grünen. Sie hatten die Bundesregierung bereits vor drei Jahren aufgefordert, den Weg für virtuelle Wahlen frei zu machen. „Online-Betriebsratswahlen haben insbesondere in international tätigen Unternehmen, in denen mehrsprachige Belegschaften über mehrere Länder verteilt sind, einen großen Nutzen“, heißt es in einem Antrag der Grünen-Bundestagsfraktion aus dem Jahr 2018.
Papier ist altmodisch, aber sicher
Die Arbeitsrechtler der Hans-Böckler-Stiftung teilen die Euphorie für ein Onlinevotum dagegen nicht. „Eine Digitalisierung der Betriebsratswahlen muss den Wahlgrundsätzen des Grundgesetzes gerecht werden“, sagt Johanna Wenckebach, Direktorin des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeits- und Sozialrecht der Stiftung. Es müsse sichergestellt sein, dass die Wahlen frei, gleich und geheim sind. Onlinewahlen kämen demnach „überhaupt nur infrage, wenn technische Systeme diesen Ansprüchen gerecht werden und insbesondere vor Manipulationen oder Beeinflussung schützen“.
Genau diese Kriterien erfüllt gegenwärtig allerdings keine Software – zumindest nicht aus der Sicht der Computersicherheitsexperten des Chaos Computer Clubs. Ein sicheres System sei zwar unter Umständen mit „extrem viel Aufwand“ möglich, so Joachim Selzer, einer der Datenschutzexperten des Clubs. Er sieht aber ein Dilemma: „Wenn eine Onlinewahl nachvollziehbar sein soll, muss man zwangsläufig das Wahlgeheimnis preisgeben. Wahrt man das Wahlgeheimnis, lässt sich nicht kontrollieren, ob die Wahl korrekt abgelaufen ist.“
Nur eine Wahl mit Papier sei für jedermann einsehbar. Bei einer Onlinewahl hingegen „steht am Ende ein Ergebnis, das nur für eine technische Elite nachvollziehbar ist. Darunter leidet die Glaubwürdigkeit.“ Selzer hält daher die Papierwahl für die Wahl der Wahl, „gerade weil sie so steinzeitlich ist“.
Der DGB sieht es ähnlich: „Geheimhaltung und Manipulationssicherheit sind bei der Onlinewahl nicht gegeben“, kritisiert Ralf-Peter Hayen, Referatsleiter Recht beim DGB. „Onlinewahlen entsprechen rechtlich und sicherheitstechnisch nicht den Anforderungen, die unter Wahrung der verfassungsrechtlichen Grundsätze gegeben sein müssen.“
Auf dem schmalen Grat zwischen den strengen Vorgaben des deutschen Rechts und dem Ruf nach praktikablen Lösungen bewegt sich der Berliner Softwareanbieter Polyas. Er bietet IT-Anwendungen auch für Betriebsratswahlen an. Mehrere Dutzend Unternehmen haben die Software bereits gekauft, obwohl Polyas auf seiner Homepage die Anwendung als „nicht rechtssicher“ ausweist. Der Hinweis gilt allerdings nur für Unternehmen nach deutschem Recht, Wahlen nach der Unternehmensform SE mit der Polyas-Software sind dagegen rechtlich unproblematisch.
Ein oft gehörtes Argument der Befürworter von Onlinewahlen ist die angeblich höhere Wahlbeteiligung. Ein Mausklick ist bequemer als der Weg zur Wahlkabine. Der DGB bezweifelt allerdings mit Hinweis auf Untersuchungen aus der Schweiz und Estland, dass ein Onlinevotum sich positiv auf die Wahlbeteiligung auswirkt.
Doch es gibt auch andere Erfahrungen. Der Kosmetik- und Konsumgüterhersteller Beiersdorf organisierte, nachdem der zwei Jahre zuvor gewählte Betriebsrat geschlossen zurückgetreten war, schon im Jahr 2016 in Hamburg Betriebsratswahlen online. Die Mitarbeiter konnten persönlich, per Brief oder per Mausklick wählen. 740 gültigen Brief- und Präsenzwahlstimmen standen 628 Onlinevotes gegenüber. Die Wahlbeteiligung war nach Einführung der Onlineoption um sechs Prozent gestiegen. Der Bundesverband der Personalmanager prämierte Beiersdorf mit dem „Personalmanagement Award“.
Doch die Freude währte nur kurz. Die Liste „Gemeinsam Stark“ klagte gegen das Ergebnis – wegen der fehlenden Verankerung der virtuellen Wahl im Betriebsverfassungsgesetz. Zunächst erklärte das Arbeitsgericht Hamburg die komplette Abstimmung kurzerhand für nichtig. Doch es ging in die zweite Runde. Doch Beiersdorf legte Beschwerde ein, und das Landesarbeitsgericht Hamburg fällte ein geradezu sibyllinisches Urteil. Zwar sah es in der Onlinewahl einen Verstoß gegen die Wahlordnung, allerdings sei der nicht gravierend genug: „Die Wahl sei zwar „unwirksam“, entgegen der Auffassung der unteren Instanz aber „nicht nichtig“. Die beiden juristischen Begriffe scheinen das Gleiche zu bedeuten – aber nur bei oberflächlicher Betrachtung. Zwar muss auch bei einer unwirksamen Wahl neu abgestimmt werden, aber die in der Zwischenzeit vom Betriebsrat gefassten Beschlüsse bleiben gültig. Ist die Wahl dagegen nichtig, wandern alle Beschlüsse in den Papierkorb. Die praktischen Auswirkungen des Richterspruchs hielten sich trotzdem in Grenzen. 2018, kurz nach dem Beschluss des Landesarbeitsgerichts, standen ohnehin die nächsten turnusmäßigen Betriebsratswahlen an.
Verstoß ja, ungültig nein
Aus dem Beiersdorf-Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg: „Die (…) Betriebsratswahl ist unwirksam, weil gegen wesentliche Vorschriften des Wahlrechts verstoßen worden ist. (…) Die Wahl ist jedoch nicht nichtig. (…) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist eine Betriebsratswahl nur nichtig bei groben und offensichtlichen Verstößen gegen wesentliche Grundsätze des gesetzlichen Wahlrechts, die so schwerwiegend sind, dass auch der Anschein einer dem Gesetz entsprechenden Wahl nicht mehr besteht. (…) Die Betriebsratswahl muss ‚den Stempel der Nichtigkeit auf der Stirn tragen‘. Die Voraussetzungen der Nichtigkeit liegen nach Ansicht der Beschwerdekammer allein wegen des Angebots der Online-Stimmabgabe nicht vor. (…) Allein wegen der Option der elektronischen Stimmabgabe fehlt der Wahl (...) nicht von vornherein der Anschein einer demokratischen Willensbildung. (…) Über eine eventuelle Anpassung der Wahlordnung an geänderte technische Rahmenbedingungen zu entscheiden, ist Aufgabe des Gesetzgebers. Die Gerichte sind nicht befugt, diese Entscheidung an sich zu ziehen.“
Beschluss vom 15.2.2018, AZ 8 TaBV 5/17