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Wirecard-Aktie (auf der
Anzeigetafel der Frankfurter Börse unter dem Kürzel WDI gelistet)
Magazin Mitbestimmung

Wirecard-Skandal : Absturz eines Börsenstars

Ausgabe 06/2020

Das Management des insolventen Zahlungsdienstleisters hatte die Mitbestimmung bewusst ausgehebelt. Die Schlupflöcher in der Gesetzgebung sollten jetzt geschlossen werden. Von Andreas Molitor

 

Das Kapital ist ein scheues Reh“ – so lautet ein gern zitierter Satz, der beharrlich Karl Marx zugeschrieben wird, auch wenn er in keinem seiner Werke zu finden ist. Er bedeutet, dass Big Money schon angesichts der geringsten drohenden Gefahr für die Rendite sofort Reißaus nimmt.

Im Fall des Zahlungsdienstleisters Wirecard muss es sich um ein ausgesprochen dummes Reh gehandelt haben. Denn obwohl es seit 2015 immer wieder ernst zu nehmende und zusehends konkrete Hinweise auf Unstimmigkeiten in den Bilanzen gab, wurde die Aktie des Unternehmens noch Mitte Juni dieses Jahres kräftig hochgejazzt: „Fettes Kaufsignal“, posaunten die Analysten an die Anlegergemeinde hinaus. „Der Hype um Wire­card war einfach zu groß“, erklärt Maxi Leuchters, Expertin für Finanzdienstleistungen und Corporate Governance am Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung, die Blindheit des Kapitalmarkts. „Alle hatten die Erwartung, mit dieser Aktie Profit zu machen.“ Endlich mal wieder ein Börsenstar aus Deutschland – „dabei haben viele Investoren vermutlich weder durchdrungen, was das Unternehmen eigentlich macht, noch hinterfragt, wie es sein Geld verdient“. Wenige Tage später, nach den letzten heißen Börsentipps, war Wirecard pleite. Es offenbarte sich der größte Bilanzskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte. Nach allem, was bisher bekannt ist, hat das Unternehmen über Jahre seine Bilanzen gefälscht und Umsatz- und Gewinnzahlen frei erfunden, um in den DAX, den Aktienindex der deutschen Börsen-Schwergewichte, aufzusteigen und Kredite in Milliardenhöhe zu erhalten. Der größte Schwindel: Guthaben in Höhe von 1,9 Milliarden Euro, die auf Treuhandkonten auf den Philippinen liegen sollen, existierten nicht.

„Ich werde ab sofort das Kindergeld für meine Tochter in Wirecard-Aktien anlegen – und glauben Sie mir, sie wird mir dafür verdammt dankbar sein.“

Ein Aktionär auf der Wirecard-Hauptversammlung, Juni 2019

Wer die juristische Hauptschuld trägt, wird jetzt ein Strafprozess klären, in dem sich die früheren Vorstände wegen bandenmäßigen Betrugs verantworten müssen. Der frühere Vorstandschef Markus Braun, den die Ermittler für die zentrale Figur in dem Wirtschaftskrimi halten, hat bislang nichts zur Erhellung beigetragen. Vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss Ende November in Berlin als Zeuge vernommen, war er nicht einmal bereit, auf die Frage zu antworten, wie lange er Vorstandsvorsitzender von Wirecard gewesen sei.

Unabhängig von der strafrechtlichen Schuld stellt sich die drängende Frage nach dem Versagen des scheinbar dichten Netzes von Aufsichts- und Kontrollinstanzen. Wie konnte das Wirecard­Management jahrelang die Bilanzen frisieren, ohne dass es jemandem auffiel? Warum wurden warnende Berichte in renommierten Medien wie der Financial Times nicht ernst genommen? Stattdessen entlastete die Hauptversammlung regelmäßig Vorstand und Wirtschaftsprüfer. Die Aktionäre wählten und bestätigten den Aufsichtsrat, der seiner Kontrollfunktion nicht nachkam.

  • Der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss
    Wenig kooperativ: Vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss Ende November wollte der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun kaum eine Frage beantworten.

Mitbestimmungsfreie Zone

Die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) attestierte der deutschen Finanzaufsicht im Fall Wirecard kürzlich ein „Versagen auf ganzer Linie“. Das gesamte System, das nach den Erfahrungen der großen Bilanzskandale der 1990er und 2000er Jahre von Grund auf erneuert worden war, steht plötzlich in der Kritik. „Es ist eine Schande“, bekannte Felix Hufeld, Präsident der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) nach dem Zusammenbruch des Betrugsgebäudes. „Private und öffentliche Institutionen inklusive meiner eigenen Behörde haben versagt.“

Vor allem Expertinnen und Experten des I.M.U. ist es zu verdanken, dass mittlerweile auch die Defizite der internen Kontrolle bei Wirecard intensiv diskutiert werden und sich die Debatte nicht mehr allein auf das Versagen von Wirtschaftsprüfern oder Finanzaufsicht konzentriert. Sie haben die interne Verfasstheit des Zahlungsdienstleisters untersucht und eine wesentliche Schwachstelle identifiziert: den Aufsichtsrat, der seiner gesetzlichen Kontrollfunktion nicht gerecht werden konnte. „Wirecard hat sich der Kontrolle durch Arbeitnehmervertreter systematisch entzogen“, so das Kurzfazit der I.M.U.-
Forscherinnen und -Forscher. Der Aufsichtsrat des Konzerns war mitbestimmungsfreie Zone, es herrschte ein Gleichklang der Interessen.

„Alle hatten die Erwartung, mit dieser Aktie Profit zu machen. Der Hype war einfach zu groß.“

Maxi Leuchters, Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung

Wirecard hatte Ende 2018 rund 5000 Beschäftigte, davon etwa ein Drittel in Deutschland. Den Arbeitnehmern hätte daher nach dem Drittelbeteiligungsgesetz ein Drittel der Aufsichtsratsmandate zugestanden, wie bei allen Unternehmen mit 500 bis 2000 Mitarbeitern. Doch das Management hatte die Mitbestimmung durch ein gesetzliches Schlupfloch umgangen: Es gliederte Wirecard in eine Holding und verschiedene Töchter mit jeweils unter 500 Beschäftigten auf, die nicht über formale „Beherrschungsverträge“ miteinander verbunden waren. Durch diesen Trick blieb auch der Aufsichtsrat der Muttergesellschaft ohne Arbeitnehmerbeteiligung. Ähnliche Mitbestimmungs-Vermeidungs-Konstruktionen finden sich auch beim Schlachtkonzern Tönnies, bei Zalando, Dussmann und der Meyer-Werft.

Bei Wirecard gab es bis zur Insolvenz übrigens auch keinen Betriebsrat. Damit war ganz bewusst ein weiteres Frühwarnsystem ausgeschaltet worden. „In Teilen des Unternehmens gab es offenbar ein weit verbreitetes Gefühl, dass Dinge in die falsche Richtung laufen“, erklärt Maxi Leuchters vom I.M.U. „In solchen Situationen wäre ein Betriebsrat als eine Instanz, die ein großes Interesse an einer nachhaltigen Entwicklung des Unternehmens und an der langfristigen Sicherung der Arbeitsplätze hat, enorm wichtig gewesen.“

  • Maxi Leuchters, I.M.U., Expertin für Finanzdienstleistungen und Corporate Governance
    Maxi Leuchters, I.M.U., Expertin für Finanzdienstleistungen und Corporate Governance

Kein Betriebsrat, kein mitbestimmter Aufsichtsrat – unangenehme Fragen konnten auf diese Weise gar nicht erst aufkommen, es fehlte der kritische und sachkundige Blick von Menschen, die nicht nur auf den Börsenkurs schielen. Niemand bohrte nach, beispielsweise nach Presse­veröffentlichungen über Unregelmäßigkeiten. Oder nachdem wieder mal Kritik an der miserablen Berichterstattung über die Corporate Governance laut wurde, also jenen internen Regeln, die Firmen zu einer gesetzeskonformen und nachhaltigen Unternehmensführung verpflichten. „Ein mitbestimmter Aufsichtsrat hätte auf Verbesserungen drängen können“, urteilt Benjamin Geißler, der beim I.M.U. die Corporate Governance von Unternehmen analysiert, „und er hätte den Vorstand möglicherweise nicht mit lapidaren und inhaltsleeren Einlassungen durchkommen lassen.“

  • Benjamin Geißler, I.M.U., analysiert die Corporate Governance.
    Benjamin Geißler, I.M.U., analysiert die Corporate Governance.

Dass ein mitbestimmter Aufsichtsrat es Bilanztricksern schwermacht, belegte kürzlich eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie von Ökonomen der Universität Duisburg-Essen („Ehrlich versus aggressiv“, Mitbestimmung 4/2020). Sie untersuchten die Praxis von Steuervermeidung und aggressiver Bilanzgestaltung in deutschen Unternehmen mit starker und mit schwach ausgeprägter Mitbestimmung. Fazit der Forscher: „Mitbestimmung führt zu einer geringeren Ausnutzung von Bilanzierungs- und Steuer­gestaltungsspielräumen.“ Einfacher formuliert: Wo es eine starke Mitbestimmung gibt, wird seltener getrickst.

Der Wirecard-Aufsichtsrat beließ es bei halbherzig vorgenommenen Untersuchungen, die erwartungsgemäß zu dem Ergebnis führten, dass beispielsweise an den Presseberichten über Bilanzunstimmigkeiten nichts dran war. Was der Aufsichtsrat genau prüfte und wer diese Prüfungen übernahm, ob er beispielsweise Forensikspezialisten beauftragte, deren Job es ist, Bilanzfälschungen aufzudecken, ist bis heute nicht bekannt. Einen Prüfungsausschuss, der bei börsennotierten Unternehmen heute zum guten Ton gehört, richtete der Aufsichtsrat erst Anfang 2019 ein. Inwieweit die interne Revision des Unternehmens – aus Loyalitätsgründen – weggeschaut hat, zum Schweigen verdonnert wurde oder in die kriminellen Machenschaften eingebunden war, werden die strafrechtlichen Ermittlungen ergeben.

Finanzsystem an die Kette?

Die Expertinnen und Experten der Hans-Böckler-Stiftung sehen nun dringenden Handlungsbedarf. „Wer angesichts des Wirecard-Skandals für Reformen und mehr kritische Geister, Diversität und Nachhaltigkeit im Unternehmen eintritt, sollte zu allererst die Lücken der Mitbestimmung im Gesetz schließen“, fordert das I.M.U. So sollen Tochterunternehmen automatisch zum Konzern gerechnet werden, auch ohne Beherrschungsvertrag. Aus der SPD wird bereits Unterstützung signalisiert. Der niedersächsische Landtagsabgeordnete Frank Henning plädiert dafür, dass seine sozialdemokratisch geführte Landesregierung sich über eine Bundesratsinitiative dafür einsetzt, die Gesetzeslücke zu schließen. Beistand erhielt er von der SPD-Bundestagsabgeordneten Cancel Kiziltepe. „Das Finanzsystem kann uns nur dienen, wenn wir ihm Ketten anlegen“, erklärte sie mit Blick auf Wirecard im Bundestag. „Und ich sage Ihnen: Diese Ketten müssen verdammt schwer sein.“


 

Warum versagte die Aufsicht?

Bafin: Nicht zuständig

Bankenregulierung und Wertpapieraufsicht sind in Deutschland Aufgabe der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin). Allerdings hatte die Bafin Wirecard nicht als Finanzholding eingestuft, sondern als Technologieunternehmen – und damit fiel lediglich die Konzerntochter Wirecard Bank, wo kein Bilanzbetrug stattfand, unter Bafin-Aufsicht. Resultat: Die Anstalt hatte die kriminellen Aktivitäten lange Zeit nicht im Fokus und beauftragte erst im Februar 2019 die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung mit einer Sonderprüfung. Im Frühjahr 2019 verteidigte die Bafin außerdem das Unternehmen gegen die von der Financial Times erhobenen Vorwürfe der Bilanzfälschung – die sich als zutreffend herausstellen sollten – und erstattete Anzeige wegen Marktmanipulation gegen die Journalisten.

Reformvorschläge: Die Bafin, so der im Oktober vom Bundes­finanzministerium vorgelegte Aktionsplan der Bundesregierung zur Bekämpfung von Bilanzbetrug, soll künftig schneller und direkter eingreifen und auch Sonderermittler einsetzen können. Die Behörde soll „unmittelbare Eingriffsbefugnisse“ auch gegenüber Unternehmen erhalten, auf die nach dem Muster von Wirecard „wesentliche Bankfunktionen ausgelagert werden“.

Wirtschaftsprüfer: Im Interessenkonflikt

Seit 2009 prüfte die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY die Bilanzen von Wirecard. Trotz zahlreicher Hinweise auf Ungereimtheiten in der Presse und von Anlegern testierte EY jahrelang anstandslos die Zahlen des Unternehmens – auch für die Geschäftsjahre, in denen in großem Ausmaß Luftbuchungen vorgenommen worden waren. Nach Hinweisen eigener Mitarbeiter auf Ungereimtheiten im Jahr 2016 setzte EY Forensiker ein, eine spezielle Taskforce mit kriminalistischem Spürsinn. Die Investigatoren fanden nichts, auch weil sie von Wirecard gezielt getäuscht wurden – mit Bankzweigstellen, die nur aus Kulissen bestanden und einer Videokonferenz mit vermeintlichen Vertretern einer asiatischen Bank, die sich später als Schauspieler entpuppten. Erst im Juni dieses Jahres, als Belege über Kontobestände auf den Philippinen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro nicht aufzufinden waren, verweigerte EY das Testat für das Geschäftsjahr 2019.

Reformvorschläge: Laut dem Aktionsplan des Bundesfinanzministeriums sollen Wirtschaftsprüfer künftig „mindestens alle zehn Jahre wechseln, um nicht betriebsblind zu werden“, und verschärft in Haftung genommen werden. Außerdem soll „ein weitreichendes Verbot der gleichzeitigen Prüfung und Beratung von Unternehmen finanzielle und andere Interessenkonflikte vermeiden“.

Bilanzpolizei: Zahnloser Tiger

Die privatrechtlich organisierte Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR), auch „Bilanzpolizei“ genannt, checkt pro Jahr ungefähr 85 Jahresabschlüsse und Geschäftsberichte deutscher Unternehmen. Der größte Teil wird per Zufallsstichprobe ausgewählt. In wenigen Fällen beginnt die DPR aufgrund von Medienberichten oder nach einem Auftrag der Bafin mit einer Prüfung. Zeitungsberichte über Unregelmäßigkeiten bei Wirecard gab es immer wieder. Öffentlich bekannt ist, dass die DPR im Februar 2019 schließlich von der Bafin beauftragt wurde. Offenbar beschäftigte sich dann aber monatelang nur ein Mitarbeiter mit dem Fall Wirecard. Das Ergebnis der Prüfung ist bis heute nirgends nachzulesen.

Außer an unzureichender Personalausstattung leidet die DPR daran, dass sie über keinerlei Durchgriffsrechte verfügt wie etwa eine Staatsanwaltschaft. Sie ist auf Kooperation mit den geprüften Unternehmen angewiesen. Kritisiert wird außerdem ihre Nähe zu den Wirtschaftsprüfern. Mehr als die Hälfte der DPR-Prüfer hat vorher bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft gearbeitet – und die meisten wechseln anschließend wieder in einen solchen Job. Man ist unter sich.

Reformvorschläge: Die Bundesregierung hat Ende Juni den Vertrag mit der Prüfstelle aufgekündigt, der damit Ende nächsten Jahres ausläuft. Wie es weitergeht, ist noch unklar. Möglicherweise wird die Bafin die Aufgaben der Prüfstelle größtenteils an sich ziehen.

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