Quelle: Stiftung Deutsches Historisches Museum
Magazin MitbestimmungRätselhaftes Fundstück: 22 Wochen im Streik
Als in den Jahren 1903/1904 die Textilindustrie im sächsischen Crimmitschau bestreikt wird, kommt es zu einer harten Konfrontation der Interessenverbände, die Deutschland verändert. Von Marc von Lüpke
Eine Stunde für uns! Eine Stunde für unsere Familie! Eine Stunde fürs Leben!“ Dieser Ruf geht unter den Textilarbeiterinnen im sächsischen Crimmitschau um. Ihr Los ist hart. Denn ihre Betriebe sind klein und kapitalschwach, viele haben schließen müssen, weil die Nachfrage eingebrochen ist. In Crimmitschau wird elf Stunden täglich gearbeitet, während im fortschrittlichen Berlin acht Stunden üblich sind. Jetzt fordern die Arbeiterinnen wenigstens den Zehnstundentag, eine längere Mittagspause und höhere Löhne. Erhobenen Hauptes posieren sie auf dieser Streikpostkarte. Schon 22 Wochen, seit August 1903, arbeiten sie nicht mehr – erst im Ausstand, dann ausgesperrt.
Politische Postkarten sind in den Jahren um 1900 ein beliebtes Medium. Selbst in kleineren Städten des Kaiserreiches wird die Post bis zu dreimal täglich zugestellt, in der Hauptstadt Berlin noch öfter. Kein Wunder, dass auch die Arbeiterbewegung Postkarten nutzt, um Missstände anzuprangern. Die Idee der Streikpostkarten kommt zuerst in Frankreich auf. Von hier breitet sich die Mode, Bilder von Arbeitskämpfen zu versenden, nach Deutschland aus.
Vom Streik in Crimmitschau, einer Hochburg der Sozialdemokratie, geht ein Fanal aus, das im ganzen Deutschen Reich Beachtung findet. Er führt sowohl bei den Arbeitern wie bei den Fabrikanten zu einer starken Solidarisierung und wächst sich zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern und den in Arbeitgeberverbänden organisierten Unternehmern aus. Für die Arbeitnehmer endet er mit einer Niederlage. Die Unternehmer erfüllen keine einzige Forderung. Was bleibt, ist eine Konfrontation der Interessenverbände, die sich erst später, nach harten Kämpfen, zu einer Sozialpartnerschaft entwickeln wird.
Die Bezeichnung einer reinen Frauengruppe als „Zehnstundenkämpfer“ auf der Postkarte wirkt befremdlich – sie funktioniert auch nicht als generisches Maskulinum. Die Erklärung dafür ist, dass die identische Banderole auch für Gruppenfotos von Männern verwendet wird. Es wird offenbar streng nach Geschlechtern getrennt fotografiert. Allerdings existieren vom Streik auch größere Gruppenbilder, auf denen links die Frauen, rechts die Männer zu sehen sind. Der doppelte Hintergrund und die doppelte Banderole verraten allerdings, dass es sich dabei um Fotomontagen handelt.
Rätselfragen
In welchem Jahr einigten sich Gewerkschaften und Arbeitgeber im sogenannten Stinnes-Legien-Abkommen auf die Einführung des Achtstundentages?
„Korrespondenzkarte“ lautete eine ursprüngliche Bezeichnung der Postkarte. In welchem europäischen Staat wurde sie 1869 zuerst eingeführt?
Welcher spätere Vorsitzende des Deutschen Textilarbeiterverbandes und Mitglied des Reichstages wurde 1869 in Crimmitschau geboren?
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Auflösung der Rätselfragen 2/2019
In Vielfalt geeint
Robert Schuman
1993