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Ralf Reinstaedler Interview Jahresbericht 2023 Service aktuell

Interview mit Ralf Reinstädtler: Zukunft gestalten, Werte bewahren!

Wie man die Zukunft gestaltet, gute Arbeit und sozialen Zusammenhalt sichert: Darüber spricht Ralf Reinstädtler im Interview. Es geht um die Herausforderungen der sozial-ökologischen Transformation, die digitale Gewerkschaft und den Einsatz für die Demokratie.

Ralf Reinstädtler, Sie sind im Oktober 2023 neu zum geschäftsführenden Vorstandsmitglied der IG Metall gewählt worden und gehören seit November auch dem Vorstand der Hans-Böckler-Stiftung an. Wie war das erste halbe Jahr?

Es war sehr spannend, in vielfacher Hinsicht – für mich persönlich natürlich, aber auch insgesamt für die IG Metall. Die Zeiten sind jaherausfordernd. Aber wie wir hier zusammenarbeiten, wie wir gemeinschaftlich und arbeitsteilig dieThemen angehen, das macht richtig viel Spaß. Trotz der Schwierigkeiten, die es gerade wirtschaftlich und gesellschaftlich gibt.

„Spannend“ ist freundlich formuliert: Die Herausforderungen scheinen zurzeit eher größer zu werden als kleiner. Viele Menschen haben den Eindruck, dass das Land in einer Dauerkrise steckt. Und statt von einer sozial-ökologischen Transformation, die man erfolgreich gestalten kann, ist wieder häufiger von einer drohenden Deindustrialisierung die Rede. Wie schwierig ist die Situation?

Die Situation ist angespannt, klar. Allerdings sehe ich keinerlei Alternative dazu, sich diesen Herausforderungen zu stellen. Wir können den ökologischen Wandel nicht per Beschluss stoppen, er wird kommen. Wir können nicht weiter so umweltschädigend und ressourcenverschleißend leben, wie wir das in der Vergangenheit getan haben. Sich dem zu verweigern und sich nostalgisch alte Verhältnisse zurückzuwünschen, kann kein Modell für die Zukunft sein. Wir müssen unsere Industrien so entwickeln, dass wir von diesem Wandel profitieren – sowohl was Arbeitsplätze und Technologien als auch was den Zusammenhalt in der Gesellschaft angeht. Wir müssen die Transformation so gestalten, dass es auch in Zukunft Wohlstand, Demokratie und soziale Gerechtigkeit gibt.

"Wir müssen die Transformation so gestalten, dass es auch in Zukunft Wohlstand, Demokratie und soziale Gerechtigkeit gibt."

Dass auskömmliche und sinnstiftende Arbeit in diesem Land erhalten bleibt. Und ich bin nach wie vor überzeugt, dass wir das können.

Klimaschützer*innen geht der Umbau der Wirtschaft nicht schnell genug, anderen geht er viel zu schnell. Wie sehen Sie das?

Wir verlieren Tempo an Stellen, wo das nicht nötig wäre. Bei der Zielbeschreibung hat die Politik geliefert, indem sie durchaus harte und herausfordernde Ziele festgelegt hat: Verbrenner-Aus 2035, Klimaneutralität 2045. Bei der Umsetzung aber wird derzeit eher gebremst, weil es an staatlichen Investitionsanreizen und einer verlässlichen Wirtschaftspolitik mangelt. Vereinbarungen und bereits beschlossene Rahmenbedingungen werden zum Teil wieder kassiert. Das sorgt für breite Verunsicherung: Private Verbraucher*innen schieben zum Beispiel den Einbau einer neuen Heizung deshalb lieber auf. Und Unternehmen zaudern mit Blick auf milliardenschwere, auf Jahrzehnte angelegte Investitionsentscheidungen. Da ist viel kaputtgegangen.

War daran nicht auch das Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts schuld?

Um das nötige private Kapital für die sozial-ökologische Transformation zu heben, braucht es begleitende staatliche Investitionen. Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurden diese Investitionen von einem Tag auf den anderen infrage gestellt. Die Anforderung der Jährigkeit im staatlichen Haushalt, die sich aus der Schuldenbremse im Grundgesetz ergibt, passt nicht zur Realität der Wirtschaft, in der Investitionen über Jahrzehnte abgeschrieben werden und sich für Unternehmen erst nach einem Hochlauf rechnen. Doch es wäre falsch, das Gericht zu beschimpfen. Die Schuldenbremse ließe sich ja reformieren. Aber man hat manchmal das Gefühl, dass die richtigen Entscheidungen fürs Land hinter parteipolitischen Interessen zurückstehen. Und da schließe ich die Opposition ausdrücklich mit ein.

Die Signale aus etlichen Unternehmen sind allerdings auch widersprüchlich. Trotz zum Teil hoher Gewinne werden düstere Zukunftsszenarien gezeichnet und die Belegschaften unter Spardruck gesetzt. Wie geht man als Gewerkschaft damit um?

Wenn man in Dekaden denkt, ist das gar nicht unbedingt widersprüchlich. Unternehmen, die heute gute Zahlen schreiben und gute Arbeitsbedingungen bieten, tun das nicht automatisch auch 2035 oder 2040 noch. Dafür müssen sie investieren – und das machen Unternehmen nur, wenn sie abschätzen können, ob sich eine Investition in Zukunft rechnet. Deshalb sind verlässliche Rahmenbedingungen so wichtig. Sonst weicht man aus und investiert im Ausland. Mit Spardruck gewinnt hier niemand etwas. Unsere Aufgabe als Gewerkschaft besteht darin, über unsere Vertrauensleute und zusammen mit unseren Betriebsräten aufzuzeigen, dass es sich lohnt, in Standorte in Deutschland zu investieren, also Produkte zu identifizieren, die auch in Zukunft noch hierzulande mit Gewinn gefertigt werden können. Daran arbeiten wir tagtäglich in den Unternehmen und entwickeln vielfach Konzepte dazu.

Muss sich die Rolle der Mitbestimmung in dieser Situation verändern?

In einigen Unternehmen sind unsere Betriebsräte und Vertrauensleute bereits daran beteiligt, Zukunftsbilder für das Unternehmen zu entwickeln. Mehr als die Hälfte unserer Betriebsräte in den von der Transformation betroffenen Betrieben aber sagt: Unser Unternehmen hat keine Strategie, wir fordern das immer nur vergeblich ein. Schon das zeigt: Wir brauchen deutlich mehr Mitbestimmungsrechte. Ein sozial-ökologischer Wandel erfordert nicht weniger als einen kompletten Umbau der Industrie. Mehr Mitbestimmung würde auch ganz allgemein niemandem schaden, ganz im Gegenteil. Die Erfahrung zeigt, dass dort, wo Mitbestimmung gelebt wird, es nicht nur den Beschäftigten, sondern dem Unternehmen insgesamt besser geht.

Mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen kennen Sie sich aus: Sie kommen aus dem Saarland und waren vor der Wahl in den IG Metall-Vorstand viele Jahre lang Bevollmächtigter der IG Metall in der Geschäftsstelle Homburg-Saarpfalz. Was ist Ihre Erfahrung: Welchen Beitrag kann in einer zugespitzten Transformationssituation die Wissenschaft leisten?

Eine deutlich größere. Ich habe im Saarland selten erlebt, dass sich bei den großen Fragen der Strategie- und Zukunftsentwicklung die verschiedenen regionalen Akteur*innen zusammengetan hätten, um gemeinsam nachzudenken: Welche regionalen Besonderheiten haben wir? Welche Möglichkeiten eröffnet uns das Wissen, das an der Universität, in den Unternehmen, in der Arbeitnehmerschaft oder auch in der Politik vorhanden ist? Was können wir gemeinsam auf die Beine stellen? Das ist unterentwickelt. Heute bemühen wir uns auch in anderen Regionen, über regionale Transformationsnetzwerke mit der IG Metall diese Akteur*innen zusammenzubringen. Das ist alles andere als trivial. Aber es ist sehr wichtig.

Mit der neuen Förderlinie „Transformation“ bringt die Hans-Böckler-Stiftung betriebliche und regionale Expert*innen mit praxisorientierten Forscher*innen zusammen. Gemeinsam werden konkrete Herausforderungen in einem Unternehmen oder einer Region angegangen, die Laufzeit der Projekte beschränkt sich auf einige Monate. Was können solche Modelle bewegen?

Ich bin gespannt auf die Ergebnisse. In der derzeitigen Situation sind möglichst viele solcher Impulse notwendig, damit sich etwa verändert. Das Modell funktioniert jedoch nur dort, wo man sich schon auf den Weg gemacht hat. Wir müssen auch Instrumente finden für diejenigen, die noch ganz am Anfang stehen oder vielleicht sogar der Meinung sind, dass sie nur den Kopf einziehen müssen und die Transformation an sich vorbeiziehen lassen können. Wenn der Hans-Böckler-Stiftung auch dazu noch etwas Gutes einfiele, könnte man das nur unterstützen.

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Bei der IG Metall in Baden-Württemberg gibt es ein „Team Transformation“, das in die Betriebe geht und Betriebsräten dabei helfen soll, die Transformation vor Ort selbst voranzutreiben – unter anderem mit einem „Zukunfts-Check“, bei dem die Zukunftsfähigkeit eines Standorts bewertet wird. Wie gut funktioniert das?

Das läuft erfolgreich, kann aber nur dort funktionieren, wo sich die Beschäftigten in der IG Metall organisieren. In Betrieben mit gut organisierten Belegschaften akzeptieren Unternehmer in der Regel Mitbestimmung und IG Metall als Verhandlungspartner auf Augenhöhe. Und in aller Regel kommen die Initiativen tatsächlich von den Betriebsräten und Beschäftigten, weil bei ihnen das Know-how sitzt. In Betrieben, in denen der Arbeitgeber sich verweigert, geht es darum, Mächtigkeit und Augenhöhe zu erreichen. Wenn wir es versäumen, die Menschen in diesem Land an der Gestaltung der Transformation zu beteiligen, wird nicht nur die Industrie kaputtgehen: Es besteht die Gefahr, dass die Menschen sich von der Demokratie abwenden. Für uns als Gewerkschaften ist es deshalb die erste Verantwortung, die Beschäftigten in den Betrieben zu beteiligen. Das ist eine ganz wichtige Voraussetzung für eine ökologische Transformation, die die Zustimmung der Menschen behält, weil es dabei sozial fair und demokratiestabilisierend zugeht.

Sie verantworten im IG Metall-Vorstand unter anderem die gewerkschaftliche Bildungsarbeit: Wie wird die durch die Transformation verändert?

An der Grundlagenbildung ändert sich erst mal wenig. Wir leben ja weiter im Kapitalismus: Es gibt einen Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit, und man muss als Betriebsrat oder als Gewerkschaft weiterhin wissen, wie man in Tarifbewegungen bestehen kann. Aber angesichts der Transformation müssen wir Betriebsräte zusätzlich befähigen, neue und komplexe Fragen zu verhandeln oder selbst initiativ zu werden. Das ist ein steter Veränderungsprozess, für den wir auch unsere Mitarbeitenden, die dieses Wissen vermitteln sollen, permanent weiterbilden. Und wir bieten vermehrt nachfrageorientierte Bildung an, möglichst nah an den Problemen im Betrieb. Denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass es klug ist, nicht unbedingt nur Fachwissen auf Vorrat zu entwickeln, sondern an konkreten Beispielen zu arbeiten. Dazu gehört auch, nicht mehr nur ein Mitglied eines Gremiums auszubilden, sondern ganze Handlungskollektive. Das sorgt für eine ganz andere Resonanz im Betrieb.

Welche Bedeutung haben digitale Bildungsangebote?

Wie alle Bildungseinrichtungen hat auch die IG Metall in der Corona-Pandemie viele Formate und Methoden in Sachen Online-Vermittlung entwickelt. Das nutzen wir auch weiter-hin – zum einen, indem wir bei Präsenzseminaren digitale Tools zur Vor- und Nachbereitung und zur Begleitung einsetzen. Zum anderen mit Online-Angeboten für Kolleg*innen, die wegen ihrer Lebens- oder Arbeitssituation nicht für mehrere Tage auf ein Seminar fahren können. Und auch wenn es darum geht, kurzfristig zu reagieren, sind Online-Veranstaltungen im Vorteil. Auf dem jüngsten Gewerkschaftstag haben wir entschieden, ein digitales Bildungszentrum einzurichten, um unsere Online-Seminare zu bündeln. Die Bildung in Präsenz soll aber unser Markenkern bleiben. Nicht zuletzt, weil man in einer Bildungsstätte rechts und links vom Seminarinhalt noch jede Menge mehr mitnimmt: Es treffen sich Menschen aus den unterschiedlichsten Betrieben, bleiben oft auch danach noch in Kontakt und tauschen sich aus über die Lösungen, die sie für betriebliche Probleme gefuden haben. So etwas findet im digitalen Raum kaum statt.

Die Digitalisierung bei der IG Metall voranzubringen, gehört zu Ihren Aufgaben im Vorstand. Ist eine „digitale Gewerkschaft“ ein vernünftiges Ziel? Und falls ja: Wie sieht die aus?

Ich finde, wir sind schon eine sehr digitale Gewerkschaft. Digital, aber persönlich, nah und regional verankert – das ist für uns kein Widerspruch. Wir nutzen Digitalisierung, um Prozesse zu vereinfachen und zu einer höheren Produktivität zu kommen. Das nutzen wir dann allerdings nicht zum Personalabbau, sondern um in der Fläche und vor Ort sichtbarer zu sein. Früher waren wir eher eine Betreuungsgewerkschaft, heute würde ich uns als eine Erschließungsgewerkschaft bezeichnen, die näher an die Betriebe und an die Gremien herangerückt ist. Wir wollen die Probleme mit den Beschäftigten gemeinsam lösen, nicht stellvertretend für sie. Das ist natürlich ein arbeitsintensiverer Ansatz; dafür setzen wir Ressourcen ein, die durch eine Vielzahl von Digitalisierungsprojekten in unserer Organisation frei werden. Eine digitale Geschäftsstelle mit einem Chatbot statt mit Menschen wird es bei uns dagegen nicht geben. Das wäre keine gute Digitalisierung.

Wir haben in den vergangenen Jahren den Aufstieg der AfD erlebt – einer Rechtsaußenpartei, die sehr gut darin ist, die durch die Transformation entstehende Verunsicherung zu schüren und auszunutzen. Die IG Metall will deshalb „Demokratiekämpfer*innen“ ausbilden, die in die Betriebe gehen und über die Gefährdung der Demokratie aufklären. Ist die Lage so dramatisch?

Die Zielsetzung rechter Ideologie ist dramatisch. Punkt. Sie bedeutet das Ende einer demokratischen Gesellschaft und auch das Ende von freien Gewerkschaften. Es zeigt sich eine Verstetigung rechter Positionen. Diese Entwicklung müssen wir ernst nehmen. Aber wir haben gesagt, wir wollen nicht gegen etwas kämpfen, sondern für etwas. Und das ist eben die Demokratie.

Aber wie kämpft man für Demokratie?

Wir wollen den Menschen, die dabei sind, sich von der Demokratie abzuwenden, nicht einfach sagen: Ihr seid auf dem Holzweg. Sondern wir wollen ihnen vermitteln, dass das, wofür wir stehen, auch für sie gut ist. Wenn wir unsere Leute zu Demokratiekämpfer*innen ausbilden, wird es nicht darum gehen, ihnen noch ein paar Argumente mehr zu geben, wie wichtig Demokratie ist. Solche Argumente haben sie sowieso schon bis zum Anschlag. Wir müssen sie darauf vorbereiten, dass sie mit Menschen sprechen, die sie nicht überzeugen können mit Argumenten. Die manchmal sogar Naturgesetze infrage stellen. Wie rede ich mit so jemandem? Wie kriege ich ihn oder sie dazu, die eigene Sichtweise trotzdem noch mal zu überdenken? Es geht darum, mit diesen Menschen trotz allem ins Gespräch zu kommen. Und zu zeigen: Es ist uns wichtig, dass du uns in dieser Gemeinschaft nicht verloren gehst. Ich hoffe, dass wir dafür auch die Arbeitgeber als Verbündete gewinnen können. Einige haben mittlerweile ja erkannt, dass auch sie eintreten müssen für eine demokratische Gesellschaft.

Muss das dann nicht ein richtig großes Programm werden?

Bei uns im Saarland sagt man: „Das Große entsteht im Kleinen.“ Wir fangen jetzt mal an und schauen, wie sich der Prototyp entwickelt. Ich finde es sehr ermutigend, wie offensiv sich die Hauptamtlichen der IG Metall, aber auch viele Betriebsräte und Vertrauensleute diesem Thema stellen. Weil sie erkannt haben, wie bedeutend es ist für ihr Leben in einer auch künftig freien Gesellschaft.

Vielen Dank für das Gespräch!

(Das Interview führten Rainer Jung und Joachim Tornau)

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