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Service aktuellInterview mit Bettina Kohlrausch: „Die langfristigen negativen Folgen von Armut entstehen jetzt“
Was tun gegen die weitverbreitete Armut unter Kindern? Eine empirische Einordung der aktuellen Debatte rund um Kindergrundsicherung und Kinderarmut von WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch.
[Aktualisiert am 29.8.2023]
Du hattest dich bereits im Frühjahr klar für eine Kindergrundsicherung für alle ausgesprochen – warum?
Bettina Kohlrausch: Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung wächst mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland in Armut auf. Das sind hochgerechnet 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Zwei Drittel der von Armut betroffenen Kinder leben mindestens fünf Jahre durchgehend oder wiederkehrend in Armut – für sie ist Armut eine prägende, wenn nicht dominierende Phase ihrer Kindheit. Der Status Quo ist also nicht haltbar – der Vorschlag von Familienministerin Paus, die aktuellen Leistungen, die Kinder und Familien zustehen, zu einer Kindergrundsicherung zusammenzufassen, ist daher richtig.
Kritiker der Kindergrundsicherung sagen: Entscheidend sei, dass die Eltern arbeiten. Dann erübrige sich auch das Thema Kinderarmut, das man heute vor allem bei Beziehern von Sozialleistungen wie dem Bürgergeld finde.
Kinderarmut nur mit Bürgergeldbezug gleichzusetzen ist schlicht falsch. Wie ebenfalls die Bertelsmann Stiftung festgestellt hat, ist die Gruppe der von Armut betroffenen Kinder konstant deutlich größer. Einkommensarmut misst man ja nach dem gängigen wissenschaftlichen Konsens daran, dass das Haushaltseinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens beträgt. Auch das ist wirklich wenig.
Ein wesentlicher Grund für die tatsächlich höhere Armutsquote: Natürlich ist Arbeitslosigkeit ein Armutsrisiko, aber heutzutage längst nicht das einzige. Die Erwerbsquote alleinerziehender Mütter etwa ist höher als die anderer Mütter und trotzdem ist ihr Armutsrisiko größer. Von den insgesamt eine Million Frauen, die ihr minderjähriges Kind überwiegend allein betreuten, arbeiteten zudem mehr als vier von zehn in Vollzeit. Ihr Anteil lag mit 42,8 Prozent deutlich über dem von vollzeiterwerbstätigen Müttern in Paarfamilien (32 Prozent), zeigen Daten des Statistische Bundesamts.
Ein weiteres immer wieder zu hörendes Argument gegen die Kindergrundsicherung und Sozialbezüge insgesamt lautet: Höhere Leistungen kämen bei den Kindern gar nicht an. Stimmt das?
Wie zahlreiche Studien belegen, etwa diese von der Bertelsmann Stiftung, kommt das Geld natürlich auch bei den Kindern an. Es ist eine entwürdigende Unterstellung, dass arme Eltern das Geld nicht für ihre Kinder ausgeben würden, für die es zudem keine empirischen Belege gibt.
Laut Finanzminister Christian Lindner ist die Kinderarmut vor allem deshalb in Deutschland noch so hoch, weil viele seit 2015 zugewanderte Familien, vor allem Geflüchtete, von ihr betroffen seien.
Ganz grundsätzlich: Wir sollten doch wohl das Ziel haben, dass möglichst kein Kind in Deutschland in Armut aufwächst, unabhängig von der Herkunft, oder? Außerdem zeigt die Statistik, dass die Kinderarmut schon vor 2015 hoch war. Kindearmut in Deutschland ist insgesamt strukturell verfestigt und auf verschiedene Risikolagen zurückzuführen. Eine davon ist, bei einem alleinerziehenden Elternteil aufzuwachsen.
Natürlich sind auch viele Geflüchtete auf Transferleistungen angewiesen. Natürlich brauchen sie - und der von Fachkräftemangel geplagte deutsche Arbeitsmarkt - Unterstützung bei der Arbeitsmarktintegration und vor allem eine unbürokratische Anerkennung ihrer Qualifikationen. Aber das hilft nicht kurzfristig gegen Kinderarmut.
Lieber mehr Bildung und bessere Arbeitsmarktintegration der Eltern statt höhere Transferleistungen für betroffene Kinder – was ist von diesem Argument zu halten?
Beides ist richtig und wichtig, nicht entweder-oder. Denn die betroffenen Kinder sind doch jetzt arm! Ihre vermutlich ohnehin von Brüchen und Traumata geprägte Kindheit findet jetzt statt und sie brauchen jetzt Geld - nicht erst in fünf Jahren. Auch die langfristigen negativen Folgen von Armut entstehen jetzt und müssen jetzt bearbeitet werden. Für alle Familien, unabhängig von der Herkunft, gilt: Die Bekämpfung von Kinderarmut lässt sich am effektivsten mit der Erhöhung der finanziellen Zuwendung erreichen.
Wie sehen diese langfristigen Folgen von Armut aus?
Von Armut betroffene Kinder sind etwa häufig schlechter in der Schule und weniger gesund, was mit langfristigen sozialen Risiken einhergeht. Sie haben oft holprige Bildungsverläufe und müssen häufiger eine Klasse wiederholen. Das liegt übrigens nicht daran, dass ihren Eltern die Schulleistungen weniger wichtig ist – die Eltern haben einfach weniger Ressourcen sie zu unterstützen. Armut erzeugt eben auch Stress. Das wirkt sich dann auch auf die Schulleistungen aus. Oft schämen sich arme Kinder zum Beispiel auch, Freunde nach Hause einzuladen, können an Aktivitäten, die Geld kosten, nicht teilnehmen. Kinderarmut bestimmt nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft der Betroffenen.
Wie muss eine Kindergrundsicherung aussehen, die erfolgreich diese Risiken minimiert?
Sie muss so ausgestaltet sein, dass alle Kinder vom Staat gleichbehandelt werden. Das ist bisher nicht der Fall - die größte staatliche Zuwendung bekommen derzeit einkommensstarke Familien. Entlastungen durch den maximalen Kinderfreibetrag liegen z.B. circa 100 Euro über dem Kindergeld. Wieso empört sich eigentlich niemand über diese Ungerechtigkeit? Der Zugang muss zudem so einfach ausgestaltet ist, dass alle die Leistungen bekommen, die ihnen zustehen - auch dies ist derzeit nicht gegeben.
Und: Die Kindergrundsicherung muss natürlich wirklich armutsfest ausgestaltet sein. Die Grundidee ist, dass die sozialstaatlichen Leistungen für Kinder zu einer Leistung, der Kindergrundsicherung, zusammengefasst werden. Diese werden dann als Garantiebetrag an alle Eltern und als einkommensabhängiger Zusatzbetrag ausgezahlt.
Momentan scheint geplant zu sein, den Garantiebetrag auf die Höhe des bisherigen Kindergeldes festzulegen und das System der steuerlichen Freibeträge unangetastet zu lassen. Damit bliebe die Privilegierung besserverdienender Eltern bestehen. Die geplante Höhe des einkommensabhängigen Zusatzbetrages ist bisher nicht bekannt. Wichtig ist, dass dieser der Höhe des sozio-kulturellen Existenzminimums tatsächlich entspricht.
Kann der nun vorgestellte Kompromiss diesen Anforderungen gerecht werden?
Bei dem geplanten Kompromiss ist die zentrale Frage, wie hoch das soziokulturelle Existenzminimum von Kindern angesetzt wird, noch nicht beantwortet. Allerdings berechnete der DGB schon 2020, dass eine Kindergrundsicherung, die das tatsächliche soziokulturelle Existenzminimum für alle Kinder garantiert, mindestens 11,4 Mrd. jährliche Mehrkosten haben würde. Da ist die Inflation, die seitdem stattgefunden hat, noch nicht mit reingerechnet. Es ist daher schwer vorstellbar, wie mit dem nun ausgehandelten Kompromiss von 2,4 Mrd. allen Kindern ein soziokulturelles Existenzminimum garantiert werden können soll.