Interview mit Bettina Kohlrausch (WSI): Analyse der Europawahlen: "Spaltung in vielerlei Hinsicht"
Statusängste und materielle Sorgen haben auch bei der Europawahl die Wahlentscheidung der Deutschen beeinflusst, analysiert die Soziologieprofessorin Bettina Kohlrausch. Sie empfiehlt den EU-Institutionen, mehr für die gerechte Besteuerung internationaler Unternehmen zu tun.
Frau Professor Kohlrausch, viele haben die diesjährige Europawahl als Schicksalswahl für die EU eingestuft, weil Parteien erstarken, die einen Rückzug ins Nationale favorisieren und das Projekt der europäischen Einigung grundsätzlich in Frage stellen. Wie bewerten Sie den Wahlausgang?
Die Volkparteien – insbesondere die SPD – sind von den Wählern und Wählerinnen abgestraft worden. Es handelt sich jedoch nicht um ein Votum gegen die EU, wie die hohen Stimmgewinne der Grünen – und auch die hohe Wahlbeteiligung – zeigen. Die Rechtspopulisten sind unter dem Ergebnis der Bundestagswahl geblieben, aber in den ostdeutschen Bundesländern teilweise stärkste Kraft. Das sollte für uns Grund zur Besorgnis sein. Es zeigt sich das Bild eines in vielerlei Hinsicht gespaltenen Landes.
Sie attestieren in verschiedenen Studien oft diffuse, aber weit verbreitete Gefühle von Verunsicherung und Unzufriedenheit, die in den letzten Jahren politische Diskurse und Wahlentscheidungen beeinflusst haben. Gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung haben Sie eine umfangreiche repräsentative Befragung vom Januar ausgewertet, die soziale Situation, Ansichten zu aktuellen politischen Themen und damalige Wahlabsichten bei der Europawahl zusammengeführt hat. Wie helfen diese Daten dabei, das Wahlergebnis von gestern zu interpretieren?
Auch bei der Europawahl hat sich gezeigt, dass Statusängste und materielle Sorgen unabhängig von der tatsächlichen materiellen Situation oder beruflichen Stellung einen Einfluss auf die Wahlentscheidung haben. Personen, die sich in dieser Hinsicht große oder sehr große Sorgen machen, gaben an, signifikant häufiger AfD wählen zu wollen. In früheren Studien haben wir gesehen, dass solche Sorgen sehr viel mit dem Gefühl eines Kontrollverlustes zum Beispiel im Hinblick auf die eigene Erwerbsbiografie zu tun haben. Prozesse wie die Digitalisierung machen vielen Menschen Angst. Gleichzeitig trauen sie dem politischen System nicht zu, diese großen Herausforderungen zu bewältigen.
Ferner haben wir bestätigen können, was schon in vielen Studien festgestellt wurde: Eine kritische Haltung zu Migration ist ein wesentlicher Treiber der Entscheidung, AfD zu wählen. Es wäre jedoch falsch, die Ursachen für die Wahlentscheidung auf diese Frage zu verkürzen. Misstrauen in die Leistungsfähigkeit der EU-Institutionen hat einen fast ebenso großen Einfluss auf die Wahlentscheidung.
Und natürlich spielt auch die objektive soziale Position eine Rolle. Im Vergleich zu Akademikerinnen und Akademikern wählen einfacher qualifizierte Berufsgruppen oder Arbeitslose häufiger AfD. Das zeigt, dass die Sicherheit, die die jeweilige Berufsposition bietet, ein entscheidender Faktor bei der Entscheidung AfD zu wählen ist.
Bestätigt das die These, dass Rechtspopulisten für Arbeiter besonders attraktiv sind?
Den idealtypischen Arbeiter gibt es nicht mehr. Bei den Menschen, die in öffentlichen Debatten als Arbeiterinnen und Arbeiter adressiert werden, handelt es sich um eine ausgesprochen heterogene Gruppe – nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage, wie sicher ihre Arbeitsverhältnisse sind und auf das Einkommen. An- und Ungelernte befinden sich in einer völlig anderen Situation als Facharbeiterinnen und Facharbeiter. Unsere Ergebnisse zeigen, dass insbesondere An- und Ungelernte vorab eine hohe Bereitschaft äußerten, bei der Europawahl AfD zu wählen. Während die Wahrscheinlichkeit dieser Gruppe, AfD zu wählen 16 Prozent höher war als die von Akademikern, ist die Wahrscheinlichkeit von Facharbeiterinnen und Facharbeitern nur 6 Prozent höher – das ist nicht viel. An- und Ungelernte gaben dagegen sogar an, bei er kommenden Europawahl häufiger als Arbeitslose AfD wählen zu wollen.
Sie haben eben gesagt, dass das Thema Migration, obwohl die Zuwanderungszahlen deutlich abgenommen haben, weiterhin eine wichtige Rolle bei vielen Wählerinnen und Wählern gespielt hat. Aber ebenso wichtig sei der Vertrauensverlust in europäische Institutionen. Kann man da sagen, was Ursache ist und was Wirkung?
Beides hängt zusammen. Den Rechtspopulisten ist es gelungen, die Flüchtlingspolitik als Beispiel für totalen Kontrollverlust politischer Institutionen darzustellen. Diese Deutung fiel bei jenen, die ohnehin schon ein geringes Vertrauen in politische Institutionen haben, auf fruchtbaren Boden. Wie schon gesagt, ist das große Misstrauen in das politische System ein entscheidender Faktor für die Wahl von Rechtspopulisten und meines Erachtens auch das Feld, auf dem versucht werden sollte, die Wählerinnen und Wähler rechtspopulistischer Parteien zurückzugewinnen. Politik muss zeigen, dass zentrale gesellschaftliche Herausforderungen politisch gestaltbar sind und erklären, welche Rolle die EU dabei spielen kann.
Um welche Themen müsste es da gehen?
In den Daten konnten wir sehen, dass das Vertrauen in die EU-Institutionen – neben Fragen der Zuwanderungspolitik und der Bekämpfung von Kriminalität – auch mit der Zufriedenheit mit der Leistung der EU im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik zusammenhängt. Von denen, die ein unterdurchschnittlich geringes Vertrauen in die EU-Institutionen haben, sind zum Beispiel 45 Prozent unzufrieden mit dem, was die EU bisher im Bereich der gerechten Besteuerung internationaler Unternehmen getan hat. Bei denen, die ein überdurchschnittliches Vertrauen haben, sind es nur 30 Prozent. Ähnlich verhält es sich mit der Zufriedenheit hinsichtlich der Frage, wie gut es der EU gelingt, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes zu schützen.
Die EU kann Vertrauen zurückgewinnen, wenn sie sich in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung überzeugend um Sicherheit in einem breiten Sinne kümmert. Dabei spielen Berechenbarkeit und Beteiligungsrechte in der Arbeitswelt, eine effektive soziale Sicherung und eine als fair wahrgenommene Besteuerung eine große Rolle.
Zur Person
Bettina Kohlrausch ist Professorin für Soziologie an der Universität Paderborn. Sie hat sich mehrfach mit den Gründen für eine rechtspopulistische Orientierung beschäftigt. Zum 1. April 2020 wird sie Direktorin am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans Böckler Stiftung. Mehr zu ihrer Studie in der Langversion und als Kurzzusammenfassung.