Quelle: HBS
Service aktuellPrognosen des IMK: So wird 2022
Welche ökonomischen Entwicklungen wir für das Jahr 2022 erwarten können, haben Forscher:innen unseres Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) zusammengestellt.
[20.12.2021]
Entwicklungen in Deutschland
Wird die vierte Covid19-Welle die Erholung der deutschen Wirtschaft beenden?
Sebastian Dullien: Aller Voraussicht nach nein. Zwar steht der deutschen Wirtschaft wegen der neuen Kontaktbeschränkungen und der Konsumzurückhaltung durch die neue Covid-Welle ein schwieriges Winterhalbjahr bevor, in dem das Bruttoinlandsprodukt sogar leicht schrumpfen könnte. Sobald die aktuelle Infektionswelle aber wieder unter Kontrolle ist, ist mit einer kräftigen Fortsetzung der Erholung zu rechnen, weil es viel aufgestaute Konsumnachfrage gibt und gleichzeitig die Industrie volle Auftragsbücher hat, die zuletzt wegen des Halbleitermangels nicht abgearbeitet werden konnten.
Wird die Wirtschaftserholung 2022 zu einem weiteren Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland führen?
Alexander Herzog-Stein: Ja. Die gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt wird sich im Jahr 2022 fortsetzen. Mit der wirtschaftlichen Erholung wird die Beschäftigung weiter zunehmen und die Arbeitslosigkeit im Jahr 2022 merklich zurückgehen. Allerdings werden in den Wintermonaten die wirtschaftlichen Folgen der vierten Infektionswelle auch auf dem Arbeitsmarkt negativ durchschlagen. Deshalb ist es wichtig, dass die Politik die beschäftigungssichernden Regelungen des Kurzarbeitsgelds hinsichtlich des erleichterten Zugangs und der verlängerten Bezugsdauer nochmals bis zum Frühjahr 2022 verlängert hat, um die gute Arbeitsmarktentwicklung nicht zu gefährden.
Wird die Inflation in Deutschland 2022 weiter steigen?
Silke Tober: Nein, die Inflation in Deutschland dürfte 2022 nicht weiter steigen, sondern geringer ausfallen als 2021. Bereits im Dezember 2021 dürfte die Inflationsrate ihren Höchststand vom November unterschritten haben, weil die Basiseffekte infolge der der schwachen und teilweise sogar rückläufigen Preisentwicklung im Jahr 2020 abgenommen haben und der Rohölpreis etwas schwächer notierte. Im Januar 2022 fällt der Mehrwertsteuereffekt in Höhe von rund einem Prozentpunkt aus der Inflationsberechnung heraus. Dadurch schwächt sich die Teuerungsrate weiter ab, dürfte aber wegen der im Jahr 2021 sehr kräftig gestiegenen Energiepreise in der ersten Jahreshälfte noch über 2 Prozent liegen.
Die verhaltene Lohnentwicklung und die sich allmählich auflösenden Lieferengpässe werden die Preisentwicklung dämpfen, so dass der Anstieg der Verbraucherpreise im weiteren Verlauf von 2022 ähnlich moderat ausfallen dürfte wie vor der Coronakrise. Ein Risiko stellt die Entwicklung der Energiepreise dar, und dabei insbesondere der im wesentlich von den OPEC-Staaten beeinflusste Rohölpreis. Derzeit zeichnet sich allerdings kein weiterer Höhenflug ab.
Wird das deutsche Staatsdefizit 2022 wieder zurückgehen?
Katja Rietzler: Ja. Nachdem das gesamtstaatliche Defizit 2021 zum zweiten Mal über 4 Prozent des BIP lag, dürfte es sich 2022 gemäß der IMK-Prognose mit der kräftigen wirtschaftlichen Erholung nahezu halbieren. So sind die Steuereinnahmen bereits 2021 kräftig gestiegen, und im Jahr 2022 können die pandemiebedingten Mehrausgaben, beispielweise für die Kurzarbeit oder Unternehmenshilfen, weitgehend zurückgeführt werden.
Noch nicht in der IMK-Prognose vom Dezember berücksichtigt sind zusätzliche expansive Maßnahmen der neuen Bundesregierung, etwa beim Klimaschutz und der Digitalisierung oder Reformen von Sozialtransfers, wie das geplante Bürgergeld und die Kindergrundsicherung. Diese Maßnahmen sind im Koalitionsvertrag noch nicht ausreichend konkretisiert. Es ist aber zu erwarten, dass der Rückgang des Defizits infolge zusätzlicher Ausgaben geringer ausfällt, als in der IMK-Prognose unterstellt.
Fallen 2022 die Preise für deutsche Wohnimmobilien?
Thomas Theobald: Eher nein. Im kommenden Jahr ist bei weiterhin reger Nachfrage nach Wohnimmobilien allenfalls eine Verlangsamung der trotz Corona-Krise zuletzt sehr dynamischen Preisanstiege zu erwarten. Im ersten Jahr dürfte die Regierung kaum das ambitionierte Ziel von 400.000 zusätzlichen Wohneinheiten erreichen. Für den Preisauftrieb bleiben neben der Nachfrage die Immobilienkreditzinsen und die zu erwartende Nutzungsdauer, die sich durch staatlich geförderte energetische Modernisierungsmaßnahmen steigern lässt, die entscheidenden Einflussfaktoren. Das gilt insbesondere für Käufer, die in Immobilien als Renditeobjekt investieren. Ausgehend von den schon jetzt erreichten hohen Preisniveaus wird der Wohnimmobilienmarkt auf die nächste Zinserhöhung daher sensibel reagieren. Damit ist aber im nächsten Jahr noch nicht zu rechnen.
Entwicklungen in Europa
Werden die großen Volkswirtschaften des Euroraums 2022 ihr BIP-Niveau von vor der Pandemie erreichen?
Sebastian Watzka: Ja, voraussichtlich werden alle großen Länder des Euroraums, also Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien, im nächsten Jahr ihr BIP-Niveau vom 4. Quartal 2019 erreichen bzw. überschreiten. Auch Spanien, 2020 schwer von der Pandemie getroffen und zuletzt mit einem noch 5,6 Prozent niedrigeren BIP-Niveau als vor der Pandemie, wird im nächsten Jahr aufholen und zum Ende des Jahres seinen Vorpandemiestand erreichen.
Führt die Ampel-Koalition dazu, dass die europäischen Handelsverträge „grüner“ werden?
Sabine Stephan: Eher nicht. Zwar will sich die Ampel-Koalition dafür einsetzen, dass in zukünftigen EU-Handelsabkommen die bislang „zahnlosen“ Nachhaltigkeitskapitel durch effektive Sanktionsmöglichkeiten mehr „Biss“ bekommen und dass der Investitionsschutz auf den Tatbestand der direkten Enteignung und der Diskriminierung konzentriert wird, was gut für Mensch, Umwelt und Klima wäre. Aber die Kompetenz für die Handelspolitik liegt bei der EU und hier ist kein Kurswechsel erkennbar. Zwar bezeichnet die EU-Kommission ihre neue Handelsstrategie als nachhaltig, aber es fehlen konkrete Maßnahmen, um diesen Anspruch in die Tat umzusetzen. Aus eigenem Antrieb dürfte die EU-Handelspolitik kaum „grüner“ werden, sondern erst, wenn sie von den Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet wird, dem Umwelt- und Klimaschutz Vorrang vor handelspolitischen Interessen einzuräumen.
Wird die EZB 2022 die Zinsen erhöhen?
Silke Tober: Nein, aus heutiger Sicht ist es unwahrscheinlich, dass die EZB bereits 2022 die Leitzinsen erhöht. Die Preisschocks und Basiseffekte, die die Inflationsentwicklung im Jahr 2021 prägten, überdecken die weiterhin schwache Inflationsdynamik im Euroraum. Ziel der seit Jahren anhaltenden Niedrigzinspolitik ist es aber gerade, die seit Anfang 2009 zu niedrige Inflationsdynamik zu erhöhen. Vor der Coronakrise lag die Inflationsrate im Euroraum nur knapp über einem Prozent und im Durchschnitt der Jahre 2014 bis 2019 nur bei 0,9 Prozent. Zwar wird die EZB im März 2022 ihr Pandemie-Notfallankaufprogramm beenden, die Zinsen dürfte sie aber erst dann erhöhen, wenn sich ein kräftiger selbsttragender Aufschwung abzeichnet, der das Erreichen des 2-Prozentziels in der mittleren Frist ermöglicht.
Werden die europäischen Fiskalregeln in ihrer aktuellen Form das Jahr 2022 überleben?
Andrew Watt: Eine Reform der Regeln wird kommen; ob schon 2022 hängt nicht zuletzt von der neuen deutschen Regierung ab. Die EU-Fiskalregeln sind wegen der Pandemie ausgesetzt. Sie werden allgemein als reformbedürftig angesehen. Sollten die bestehenden Regeln wieder 2023 unverändert zur Geltung kommen, würden die hohen Schuldenstände in vielen Mitgliedsstaaten eine forcierte Konsolidierung erfordern, die den Fortbestand der Währungsunion bedrohte.
Aber die Reformvorstellungen gehen auseinander und europäische Mühlen mahlen langsam. Die französische EU-Ratspräsidentschaft sieht zwar ein Gipfeltreffen mit dem Ziel, Reformen zu beschließen, schon in März vor. Der französische Präsident wird allerdings dann schon mitten im Wahlkampf stehen. Und die Position Deutschlands ist noch unklar. Die Koalitionsvereinbarung enthält hierzu einen Formelkompromiss. Ein Armdrücken zwischen Finanzministerium und Kanzleramt ist schon vorprogrammiert, dessen Ausgang mit darüber entscheiden wird, ob die nötigen Reformen rechtzeitig beschlossen werden können.
Klimaschutz und Globalisierung
Wird Deutschland 2022 den CO2-Ausstoß mit den Maßnahmen der neuen Regierung spürbar senken können?
Sven Schreiber: Nein, das ist noch nicht zu erwarten. Selbst wenn das geplante Klimasofortprogramm der Ampelkoalition ambitioniert ausfallen sollte, so würde seine Umsetzung sowohl auf öffentlicher wie auf privater Seite Zeit brauchen. Ein deutlicher Effekt wäre über den Jahresdurchschnitt 2022 betrachtet noch nicht spürbar. Und sehr kurzfristig wirkende Maßnahmen wie ein Tempolimit stehen kaum auf der Agenda.
Werden die derzeitigen Lieferengpässe zu einer stärkeren Regionalisierung oder einer Verkürzung von Lieferketten führen?
Sabine Stephan: Eher nicht – zumindest in der kurzen Frist. In Umfragen geben derzeit viele Firmen an, dass sie ihre Lieferketten überdenken wollen. Es sind vor allem Unternehmen aus dem Verarbeitenden Gewerbe, die aktuell vom Materialmangel betroffen sind. Allerdings scheint bislang nur ein kleiner Teil von Firmen eine Rückverlagerung von Teilen der Produktion oder eine stärkere Regionalisierung ihrer Lieferketten in Betracht zu ziehen. Die Mehrheit setzt darauf, die eigene Resilienz durch Diversifikation der Beschaffung und Ausweitung der Lagerhaltung zu erhöhen.