Interview mit Andrew Watt (IMK): "Es droht wieder eine existenzielle Krise des Euroraums"
Kommt zur Corona-Krise nun auch die Euro-Krise zurück? Braucht Europa Corona-Bonds, damit die Staaten angemessen auf die anstehende Rezession reagieren können? Andrew Watt, Europa-Experte unseres IMK, kritisiert im Interview die derzeitige Uneinigkeit und fehlende Hilfsbereitschaft.
Einige besonders von der Corona-Krise gebeutelte Staaten wie Italien, Spanien und Frankreich forderten vergangene Woche die Einführung von „Corona-Bonds“. Was ist das und warum ist das aus Sicht der Regierungen nötig?
Watt: Corona-Bonds sind ein gemeinsames Schuldeninstrument, das von inzwischen 14 EU-Regierungen gefordert wird. Die Grundidee besteht darin, Anleihen zu emittieren, für die alle EU-Mitgliedstaaten die Haftung übernehmen. Gemeinsame Anleihen könnten verhindern, dass die Zinskosten besonders betroffener Länder stark ansteigen, was die Währungsunion als Ganzes destabilisieren würde. Denn hierin liegt das eigentliche Risiko für die Europäische Union – und nicht darin, dass das „Geld ausgehen könnte“. Die EU-Institutionen haben die fiskalischen Regeln schon suspendiert und die EZB hat ein Instrument (PEPP) geschaffen um nationale Staatsanleihen aufzukaufen. Trotzdem könnten die Staatsschulden in Ländern wie Italien im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung rasant steigen.
Die Bundeskanzlerin hat die Idee von Corona-Bonds zurückgewiesen. Kehrt die Euro-Schulden-Krise zurück, weil es in den letzten Jahren versäumt wurde, die Währung krisenfest zu machen?
Man sieht in der Tat eine ähnliche Frontenbildung wie in der Eurokrise. Die Staats- und Regierungschefs haben sich im Europäischen Rat unter anderem wegen der Opposition von Deutschland nicht auf die Einführung von Corona-Bonds einigen können. Stattdessen sollen die Finanzminister bis Mitte April Möglichkeiten prüfen, den Europäischen Stabilitätsmechanismus so auszustatten, dass er notleidenden Staaten unter die Arme greifen kann. Wegen der politischen Uneinigkeit verstreicht jedoch wertvolle Zeit. Das ist umso unverständlicher, als dass durch die Pandemie sowohl im gesundheitlichen als auch wirtschaftlichen Sinne eine Ansteckung von einem Land auf das andere droht.
Abgesehen vom Zeitverlust: Taugt der angesprochene Europäische Stabilitätsmechanismus, also der Eurorettungsschirm ESM, als Instrument?
Der ESM wurde geschaffen, um strauchelnden Mitgliedsstaaten den Zugang zu verbilligten Krediten zu ermöglichen. Damit soll eine finanzielle Ansteckung zwischen den Mitgliedstaaten verhindert werden. Mit einem ESM-Kredit kann ein Land auch von unbegrenzten EZB-Anleihenkäufen profitieren. Insofern ist es nicht abwegig, den ESM in der aktuellen Situation einzusetzen. Allerdings müsste der ESM deutlich aufgestockt werden, wenn er Anti-Krisenmaßnahmen in der Fläche finanzieren soll. Bleibt die Kreditgewährung auf einzelne Länder beschränkt, gilt es gegenüber der eigenen Bevölkerung und den Finanzmärkten als Makel „Kunde“ des ESM zu sein. Der potenzielle Vorteil eines ESM-Darlehens (niedrigere Zinssätze, längere Laufzeiten) wäre beschränkt, die Schulden stiegen aber weiter. Da stellt sich die Frage: Kann man einem von der Krise hart getroffenen Land wie Italien zumuten, die Schulden zurückzuzahlen, wenn sie von den bereits heute überschießenden 130 auf mehr als 180 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ansteigen würden? Ich glaube nicht.
Welche Rolle könnte die EU dann in dieser Krise spielen? Bislang haben wir ja stark national geprägte Reaktionen.
Wenn einzelne Mitgliedsstaaten selbst mit Unterstützung von ESM-Darlehen und der EZB mit der Bewältigung der Coronakrise überfordert sind, droht wieder eine existenzielle Krise des Euroraums. Die Antwort darauf müsste sein, einen Teil der Kosten und Lasten zu vergemeinschaften. Das wäre wohl am ehesten mit einer neuen EU-Agentur oder einem reformierten ESM zu erreichen, der gemeinsame Anleihen herausgibt, die von allen Mitgliedstaaten im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung getragen, bedient und massenhaft von der EZB gekauft werden. Hiermit würden über nationale Schubladen hinaus Ausgaben finanziert, die nach Dringlichkeit und Bedürftigkeit priorisiert werden. Dabei käme es natürlich zumindest für eine gewisse Zeit zu Transfers zwischen den Mitgliedsländern. Zu befürchten ist daher, dass der Leidensdruck bei den Staats- und Regierungschefs erst noch stark steigen muss, bis sie sich dazu durchringen.
Schon Jean Monnet meinte Europa sei die Summe der gefundenen Antworten auf Krisen.
Was muss die EU jenseits finanzieller Fragen leisten, um die Coronakrise zu bewältigen?
Die EU-Institutionen müssen den Binnenmarkt koordinieren. Im Bereich der öffentlichen Gesundheit tun sie das bereits, auch wenn sie hier wenige explizite Kompetenzen haben. Wichtig ist es zudem, notwendige Grenzkontrollen zu ermöglichen, ohne den Handel im Binnenmarkt mehr als absolut nötig zu beschränken. Die Europäische Kommission fördert bereits gemeinsame Forschungsanstrengungen für einen effektiven Impfstoff gegen COVID19. Nicht zuletzt muss die EU angesichts der wahrscheinlichen Ausbreitung der Seuche in Entwicklungsländern in der Handels- und Nachbarschaftspolitik - insbesondere für Afrika - Verantwortung übernehmen.
Wohin steuert die Europäische Union in den nächsten Monaten?
Meine Prognose ist, dass in vielen Politikbereichen die Erkenntnis wachsen wird, dass koordinierte und kooperative Lösungen im existenziellen Interesse der Mitgliedstaaten und deren Bürger sind. Wie auch nach vergangenen Krisen werden neue europäische Institutionen geschaffen, um Risiken rechtzeitig zu identifizieren und im Krisenfall möglichst effektive Maßnahmen zu koordinieren. Somit ist die Pandemie Risiko und Chance für Europa zugleich. Schon Jean Monnet meinte Europa sei die Summe der gefundenen Antworten auf Krisen.