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Rana Plaza

: Deutschlands neues Lieferkettengesetz – Papiertiger oder Hebel?

Wie hoch ist der wahre Preis für ein T-Shirt? Solche Fragen stellen sich oft erst, wenn schwere Unglücke in fernen Ländern ein Schlaglicht auf die dortigen Arbeitsbedingungen werfen. Ein neues deutsches Gesetz fordert nun bei Firmen mit mehr als 3000 Angestellten Sorgfalt bei der Einhaltung der Menschenrechte und Umweltstandards während des gesamten Produktionsprozesses ein. Wie wirkt sich das aus – in Theorie und Praxis?

90 Sekunden. Länger hat es nicht gedauert, als am 24. April 2013 die achtstöckige Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch zusammenstürzte. Die Bilder gingen um die Welt, es sah es aus wie nach einem Erdbeben oder einem Terroranschlag. Doch in Wirklichkeit war es eine Katastrophe mit Ansage: Das Gebäude, ein Schwarzbau, hatte schon vorher tiefe Risse im Mauerwerk und galt als einsturzgefährdet. Trotzdem wurde dort weitergearbeitet. Mehr als 1000 Menschen starben bei dem Unglück, rund 2500 wurden verletzt, viele vom ihnen Textilarbeiterinnen. Auch bekannte europäische Modefirmen haben damals in Rana Plaza unweit der Hauptstadt Dhaka produzieren lassen.

Vor zehn Jahren kamen die Arbeitsbedingungen in Bangladesch, dem zweitgrößten Textilexporteur nach China, mit Wucht in der Mitte der westlichen Gesellschaften an.  Manche Kundinnen und Kunden schauen Kleidung seitdem misstrauischer an: Wie hoch ist der wahre Preis für ein T-Shirt? Entsteht durch Kaufen Mitverantwortung? Und was ist das überhaupt, eine Lieferkette?

Nach internationalen Standards sind Unternehmen dazu verpflichtet Menschenrechte, Arbeitnehmerrechte und Umweltstandards zu achten – und zwar entlang ihrer gesamten Produktion, heißt es bei Amnesty International. Deshalb haben auch hiesige Textilunternehmen, die zum Beispiel in Bangladesch produzieren lassen, Verantwortung dafür, wer dort wie für sie arbeitet. Deutschland hat auf diese Pflicht mit dem „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten und Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten“ reagiert. Es gilt seit Januar 2023.

Das Lieferkettengesetz

Rund 79 Millionen Kinder arbeiten nach Angaben des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) weltweit unter ausbeuterischen Bedingungen, zum Beispiel in Textilfabriken, Steinbrüchen oder auf Kaffeeplantagen. Doch auch Erwachsene treffen Verstöße gegen Menschenrechte am Arbeitsplatz, vor allem im globalen Süden. Umweltschutz ist ebenfalls kein weltumspannendes Gut. Dennoch werden Rohstoffe, Rohprodukte und Güter, die unter zweifelhaften Bedingungen gefördert oder produziert werden, auch nach Deutschland verkauft. Was heißt das mit Blick auf Verantwortung?

Deutschlands Antwort ist das „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten und Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten“ - kurz Lieferkettengesetz. Ziel ist es laut  BMZ, den Schutz der Menschenrechte und der Umwelt in globalen Lieferketten verbessern. Dabei gehe es nicht darum, überall in der Welt deutsche Sozialstandards einzuführen. Vielmehr sollen grundlegende Menschenrechtsstandards wie das Verbot von Kinderarbeit und Zwangsarbeit eingehalten und zentrale Umweltstandards eingefordert werden - darunter das Verbot, Trinkwasser zu verunreinigen.

Das Lieferkettengesetz gilt im Moment für große Unternehmen mit mehr als 3000 Angestellten. Laut BMZ sind das rund 900 Firmen in Deutschland. Das  Gesetz verpflichtet sie unter anderem, auf Missstände beim Einkauf aus dem Ausland zu reagieren. Firmen müssen dafür unter anderem eine Risikoanalyse machen, ein Risikomanagement sowie einen Beschwerdemechanismus aufsetzen und öffentlich darüber berichten. Bei Verletzungen im eigenen Geschäftsbereich oder bei unmittelbaren Zulieferern müssen die Unternehmen laut Gesetz unverzüglich angemessen für Abhilfe sorgen. Für die Europäische Union ist ein ähnliches Gesetz in Planung.

Das klingt gut in der Theorie, aber wie sieht es mit der Umsetzung in der Praxis aus? Noch sei der Rahmen des Lieferketten-Gesetzes nicht ausreichend, kritisieren Menschenrechtsorganisationen. Auch Wissenschaftler haben in einigen Punkten Zweifel. Warum genau?

Drei Fragen an Dr. Hendrik Simon, Politikwissenschaftler am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung:

  • Hendrik Simon
    Foto: Hendrik Simon privat

Was kann das neue Lieferkettengesetz bewirken?

Das kommt vor allem auf die Umsetzung an. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass das deutsche Lieferkettengesetz Unternehmen in ihren Geschäftspraktiken stärker zur Verantwortung ziehen kann. Gleichzeitig aber hat auch unsere eigene Forschung offengelegt, dass Beschäftigte zu wenig darüber wissen, wie sie beispielsweise eine Beschwerde einreichen können. Das gilt in den von uns untersuchten Fällen Ghana, Kenia und Südafrika. Aber nicht nur. Auch interviewte Betriebsräte in Deutschland waren sich häufig nicht sicher, welche Rolle sie bei der Durchsetzung des Gesetzes konkret spielen. Es besteht also Qualifizierungsbedarf. Und hier kommen Gewerkschaften ins Spiel. In transnationalen Gewerkschaftsnetzwerken können Informationen über Inhalt und Durchsetzung des Gesetzes ausgetauscht werden. Das ist ganz essenziell!

Gibt es Defizite in Sachen Mitbestimmung und Beschwerden?

Hier ist das Gesetz leider teilweise zu unkonkret. Das Gesetz nennt zwar den Wirtschaftsausschuss, in dem Betriebsrät*innen am Risikomanagement beteiligt werden sollen. Weitere Beteiligungsmöglichkeiten müssen aber etwa aus dem Betriebsverfassungsgesetz abgeleitet werden: So können die Mitbestimmungsakteure die Umsetzung des Gesetzes im Aufsichtsrat prüfen, die Ergebnisse der Risikoanalyse im Wirtschaftsausschuss erhalten, und der Betriebsrat kann bei der Ausarbeitung eines Beschwerdeverfahrens beteiligt werden. In einer zukünftigen EU-Richtlinie wäre es wichtig, die Rolle von Gewerkschaften und Betriebsräten klarer auszuformulieren.

Wie steht es um Kontrolle und Sanktionen?

Für die praktische Kontrolle, ob ein Unternehmen seine Sorgfaltspflichten einhält, ist der transnationale Austausch zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten besonders wichtig. Lieferketten sind intransparent, die Zuliefererbeziehungen sehr dynamisch. Deswegen müssen Gewerkschaften über Ländergrenzen hinweg Informationen über Risiken, die in einem Produktionskontext typisch sind, austauschen. Sie sollten dabei auch gemeinsam überlegen, wie Beschwerden dokumentiert werden können.

Mit Blick auf Sanktionen ist mein Eindruck wieder geteilt: Leider fehlt im deutschen Gesetz eine zivilrechtliche Haftungsklausel. Positiv ist aber, dass Gewerkschaften und NGOs mit Sitz in Deutschland die Prozessstandschaft für Geschädigte übernehmen können. Positiv ist auch, dass offizielle Beschwerde gegen Unternehmen beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) eingelegt werden kann. Eine erste Beschwerde liegt nun übrigens auch vor: Das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) mit Sitz in Berlin hat Beschwerde gegen VW, Mercedes und BMW eingelegt. Das ECCHR argumentiert, dass die Fahrzeughersteller nicht ausreichend gegen Menschenrechtsverstöße in der uigurischen Region in China vorgehen. Das ist ein spannender Fall! Und der Ausgang dieser Beschwerde wird uns sicher mehr darüber sagen, was das Lieferkettengesetz bewirken kann.

Die Innensicht – was sagen Gewerkschaften und Betriebsräte zum Gesetz?

Betriebsrätinnen und Betriebsräten sowie Gewerkschaften in Deutschland fehlen noch wichtige Bausteine im Gesetz. Dazu gehören zum Beispiel Mitbestimmung in allen Betrieben und festgeschriebene wirksame Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten entlang der gesamten Lieferkette. Dazu kommt: nicht überall auf der Welt ist Gewerkschaftsarbeit selbstverständlich.

Dennoch sieht Kathrin Schäfers, die im Vorstand der IG Metall für die transnationale Abteilung arbeitet, im Lieferkettengesetz einen ersten wichtigen Schritt in die richtige Richtung. „Als Land mit dem Hauptsitz eines Unternehmens haben wir Verantwortung“, sagt sie. Transnationale Gewerkschaftsarbeit sei für sie die Antwort auf die Globalisierung „Das kann man nicht alleine wuppen“, betont Schäfers. Wo Kapital global vernetzt sei, müssten auch die Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter*innen Hand in Hand arbeiten. An erster Stelle gehe es darum, Vertrauen aufzubauen. „Das ist die Grundlage für Zusammenarbeit.“

Manchmal gebe es in Betrieben des globalen Südens Skepsis unter dem Motto: Was wollt ihr denn von mir? Denn oft würden Weiße mit dem Management gleichgesetzt, berichtet Schäfers. Für Gewerkschaften gehe es darum, dieses Bild aus dem Weg zu räumen. Auch das Beschwerdemanagement funktioniere noch nicht besonders gut. Denn Menschen hätten Sorge davor, dass sie bei einer Beschwerde nicht anonym blieben – sie hätten Angst vor Repressalien. „Es geht darum, starke Strukturen im Betrieb aufzubauen, um auch mal dicke Backen machen zu können“, sagt Schäfers. Um das klarzumachen, helfe das Lieferkettengesetz wie ein Hebel.

Interessensstrukturen müssten jedoch oft erst geschaffen werden. Einfach ist das nicht, wenn in Ländern zum Beispiel grundlegende Gewerkschaftsrechte eingeschränkt sind. Dennoch sieht Schäfers auch im globalen Süden viele stolze und selbstbewusste Gewerkschaften. Es gehe darum, sie mit gemeinsamen Projekten zu unterstützen und ihre Organisationsmacht zu stärken – auch mit Partnern wie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Interview

„Da muss nachgelegt werden, um wirkliche Hebel zu haben“

Holger Zwick ist Gesamtbetriebsrats-Vorsitzender des Automobilzulieferers Lear Corporation. Er hat Betriebe im Ausland besucht, zum Beispiel in Südafrika. Er weiß, welch große Rolle es spielt, dann auch mal ein Bierchen miteinander zu trinken.  Da erfährt man viel. Was fehlt ihm im neuen Gesetz?

  • Holger Zwick
    Foto: Holger Zwick privat

Ist das Lieferkettengesetz ein Papiertiger?

Der Ansatz ist gut. Der Grundgedanke ist auch gut. Die ersten Entwürfe des waren allerdings sehr viel schärfer, was Sanktionen, Präventionsmaßnahmen und Wirksamkeitskontrollen betraf. Das ist leider verwässert worden. Wir hoffen, dass es über die Richtlinie des Europäischen Betriebsrats wieder schärfer gefasst wird. Da muss nachgelegt werden, um wirkliche Hebel zu haben.

Könnten andere Länder dieses Gesetz unter dem Motto aushebeln: Was interessiert uns, was Deutschland da beschlossen hat?

Ja. In Deutschland bekomme ich nur mit, was in Deutschland passiert. Und ich werde auch nur hier den Rechtsanspruch darauf haben zu wissen, was passiert. Wenn ich Hinweise habe, dass in der Lieferkette etwas nicht stimmt? Dann kann ich versuchen, einzuklagen, diese Information zu bekommen. Dann entscheiden Gerichte, ob das Management mir diese Informationen überhaupt zur Verfügung stellen muss. Das ist der Schwachpunkt des Gesetzes: Ich muss viel glauben, was mir die Unternehmen sagen. Zum Beispiel 80 Prozent Score bei Menschenrechten. Da  frage ich mich: Wieso sind es nicht 99 Prozent? Welche externen Audit-Unternehmen haben dort was genau geprüft – oder war das nur die Selbsteinschätzung eines Zulieferers? Dieses Vage ist mein Kritikpunkt an der jetzigen Situation.

Sind die Betriebe eines Unternehmens im Ausland mit dem neuen Gesetz geschützter als früher? Und gibt es einen relevanten Unterschied zu den Zulieferern in der Kette?

Naja, die erste Frage ist: Komme ich in die eigenen Betriebe rein - oder wer kontrolliert sie und auf welcher Grundlage? In Südafrika kenne ich unsere Standorte. Ich weiß, wie sie produzieren und wo es da Probleme gibt. Das kann ich mit dem Management diskutieren. Aber bei Zulieferern kann ich nicht kontrollieren. Fangen wir mit der Lederhaut für Autobezüge an. Sie stammt als Rohprodukt von Rindern aus Argentinien und Brasilien. Für die Weiden ist möglicherweise Regenwald abgeholzt worden, denn Lederhaut ist ein Abfallprodukt der Fleischindustrie in diesen Ländern. Die Lederhaut wird dort auch gegerbt und gefärbt, da ist sehr viel Chemie im Spiel. Dann wird das Leder nach Europa geliefert. In Ungarn wird es geprägt und geschnitten, danach geht es zum Zusammennähen nach Rumänien. Bei uns kommt es als fertiger Lederbezug zur Montage an. Als Betriebsrat aus Deutschland kann ich aber selbst mit dem neuen Lieferkettengesetz immer noch nicht erfahren, ob Arbeitsschutz, Arbeitsbedingungen und Umweltschutz beim Rohprodukt in Südamerika in Ordnung gehen. Und genau bei diesen Kontrollmöglichkeiten muss nachgeschärft werden.

Andere Länder, andere Sitten – wie schwer ist es für Betriebsräte und Gewerkschaften, bei Betrieben im globalen Süden einen Fuß in Sachen Menschenrechte und Umweltschutz in die Tür zu bekommen?

Wir müssen kulturell aufpassen. Wir müssen uns auf jedes Land einzeln vorbereiten: Wie ticken sie, wie sind sie strukturiert. In Ländern des globalen Südens gibt es meist kein Arbeitsrecht wie in Deutschland. Dieses Gedankengut muss man komplett über Bord werfen. Wir müssen schauen, ob und wie wir überhaupt in die Standorte hineinkommen. Manchmal machen Freihandelszonen das besonders schwer. Manchmal gibt es wenig oder gar keine Mitbestimmungsstrukturen. In Marokko sind zum Beispiel Gewerkschaften aktiv, doch sie funktionieren nach dem französischen System und kannibalisieren sich gegenseitig. In Südafrika ist die Numsa als Metallgewerkschaft marxistisch durchstrukturiert. Regionale Aspekte – für alle gleich – werden dort gern gesehen, workshops  für einzelne Betriebe aber eher nicht. Es ist jedes Mal ein Abwägen und Überzeugen, was geht. Es braucht Zeit und Geduld, Vertrauen zu schaffen. Manchmal müssen wir in Südafrika erst erklären, dass in Deutschland auch weiße Menschen an Maschinen stehen.

Würden Arbeitende im globalen Süden denn jetzt eher auf die Idee kommen, sich über mögliche Missstände im Betrieb zu beschweren?

Ein Punkt bleibt doch auch mit dem Lieferkettengesetz: Die Leute haben Angst um ihre Jobs. Sie fragen sich, wenn ich mich jetzt beschwere, wo landet das? Wer bearbeitet meine Beschwerde? Was passiert dann? Kontrolliert jemand, ob es danach anders und besser läuft? Dann wird einer Kollegin oder einem Kollegen vielleicht gekündigt und das wird als Mahnmal hingestellt – und das war es dann mit dem Compliance-Management. Firmeninterne Compliance-Richtlinien müssen auch über die Mitbestimmung organisiert sein. Wenn ein Unternehmen das nicht von sich aus will, gibt es keinen Hebel, es verpflichtend einzuführen. Leider auch nicht mit dem neuen Gesetz.

Und wie steht es mit Sanktionen im Lieferkettengesetz?

Es gibt sie kaum. Da müssen wir schon ein richtig schwarzes Schaf haben, bis eine Regierung etwas sagt, ein Unternehmen Strafe zahlen muss oder verklagt wird. Und dann gibt es immer noch das Territorialprinzip, also: Wo sitzt dieses Gericht?

Wäre ein schwarzes Schaf die Größenordnung Bangladesch, als in einer Textilfabrik vor zehn Jahren mehr als 1000 Arbeiterinnen ums Leben kamen?

Ja, leider ist das so. Ohne einen Aufschrei in den Medien auch bei uns, ohne öffentlichen Druck  passiert da gar nichts. Dann wird weiter alles unter den Teppich gekehrt. In Bangladesch hat sich auch nicht wirklich etwas verändert, das wissen wir von Kolleginnen und Kollegen aus der Textilindustrie. Es gibt nun zwar Label. Aber dass die Lage nun auch durch das Lieferkettengesetz besser wird? Glauben mag ich es nicht, weil  Kontrollmöglichkeiten fehlen. Und haben Käufer ihr Verhalten geändert? Einige vielleicht, aber längst nicht alle. Große Markenunternehmen haben nach solch verheerenden Unfällen einen Imageschaden. Negativ-Schlagzeilen können sich bei börsennotierten Unternehmen bis auf den Aktienkurs auswirken. Aber für alle anderen zählt doch immer noch: cash is king.

  • Holger Zwick
    Foto: Holger Zwick privat

Erster Check: Wie setzen Unternehmen das Lieferkettengesetz auf dem Papier um?

Hätte, hätte, Lieferkette? Ganz so banal ist es nicht. Unternehmen mit entsprechender Größe können das neue Gesetz nicht einfach ignorieren – auch nicht in ihrer öffentlichen Kommunikation. Was hat sich schon getan – und woran mangelt es noch?

Dr. Judith Beile und Dr. Katrin Vitols arbeiten für die Firma wmp consult, die Beratung für Unternehmen und Betriebsräte anbietet. Sie haben sich angeschaut, wie einzelne Unternehmen die Auflagen des Lieferkettengesetzes bisher auf dem Papier beziehungsweise auf ihrer homepage umsetzen. Dabei geht es zum Beispiel um Quellen wie Geschäfts- und Nachhaltigkeitsberichte, die nichtfinanzielle Berichterstattung, um Grundsatzerklärungen und Verhaltenskodizes für die eigenen Mitarbeiter*innen und für Lieferanten.

Due Diligence steht im deutschen Recht für erforderliche Sorgfalt. Für ihre Studie haben die Forscherinnen die veröffentlichte Unternehmenskommunikation zu Due Diligence in der Lieferkette in 90 DAX und M-DAX-Unternehmen ausgewertet. Bei ihrem Check haben die Wissenschaftlerinnen darüber hinaus verschiedene Dokumente und Webseiten zu Beschwerdeverfahren unter die Lupe genommen.

Im Visier für die Analyse war dabei die Unternehmenskommunikation mit einem Veröffentlichungsdatum bis einschließlich 31. Dezember 2022. Unternehmen, die in den Anwendungsbereich des Gesetzes fallen, müssen ab 1. Januar 2023 über entsprechende Kernbestandteile von Due Diligence verfügen. Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) wolle erstmalig zum Stichtag 1. Juni 2024 das Vorliegen der Berichte nachprüfen, berichtet Vitols. Ein erster Eindruck schon jetzt:

Grundsatzerklärung: Das Lieferkettengesetz fordert eine Erklärung zur Achtung der Menschenrechte und der Umweltrechte in Unternehmen. Erwartet wird auch eine Beschreibung der Prozesse der Sorgfaltspflicht, der Risiken und der Erwartungen an Beschäftigte und Zulieferer. Die Grundsatzerklärung sollte von höchster Unternehmensebene verabschiedet und sowohl intern als auch extern an Interessensgruppen (Stakeholder) kommuniziert werden. Wie steht es um all das? Hier der wmp-Check:

  • Die überprüften Unternehmen veröffentlichen separate Menschenrechtserklärungen, um ihr Bekenntnis dazu zu unterstreichen. Im Vergleich dazu sind umweltbezogene Verpflichtungen bisher seltener zu finden
  • Die Unternehmen verweisen auf Rahmenwerke, insbesondere auf die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO)
  • Weniger als zwei Drittel der Unternehmen, die über eine Grundsatzerklärung verfügen, formulieren an ihre Lieferanten Erwartungen mit Blick auf die Achtung der Menschenrechte
  • In knapp zwei Dritteln der überprüften Unternehmen hat die Leitung die Grundsatzerklärung verabschiedet
  • Risiken für mögliche Verletzungen von Menschen- und Umweltrechten werden kaum aufgeführt
  • Nur wenige Unternehmen machen Angaben dazu, wie sie ihre Grundsatzerklärung kommunizieren

Risikoanalyse: Das Lieferkettengesetz verlangt von Unternehmen, einmal im Jahr eine Risikoanalyse vorzunehmen. Dazu kommen besondere Anlässe, zum Beispiel, wenn neue Rohstoffe verwendet werden. Bemerkt das Unternehmen ein Risiko, muss es Präventionsmaßnahmen ergreifen. Dazu existiert eine Liste mit ausgewählten Rechten und Verboten: Verboten ist es zum Beispiel, Beschäftigten einen angemessenen Lohn vorzuenthalten, den Arbeitsschutz zu missachten, widerrechtlich zwangszuräumen oder widerrechtlich Land zu entziehen. Wie liest sich das im Check?

  • Detaillierte öffentliche Ausführungen zur durchgeführten Risikoanalyse in Unternehmen unterbleiben
  • Häufig wird von Unternehmen nur eine marktorientierte Sicht eingenommen (Outside-In-Perspektive). Dabei geht es zum Beispiel um Risiken für den Geschäftsverlauf oder den Jahresabschluss. Die Sicht auf Risiken für Gesellschaft und Umwelt, die durch die Tätigkeit des Unternehmens entstehen, unterbleibt eher
  • Oft findet nur eine Vorabprüfung von potenziellen Lieferanten durch eine schriftliche Befragung statt

Präventionsmaßnahmen: Das Lieferkettengesetz verlangt eine Verankerung von Präventionsmaßnahmen im eigenen Geschäftsbereich und auch gegenüber unmittelbaren Zulieferern. Beispiele dafür sind die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten beim Einkauf und Schulungen. Unternehmen können auch einen Kodex für Lieferanten veröffentlichen. Wie steht es damit?

  • Rund ein Drittel der Unternehmen gibt in der eigenen Unternehmenskommunikation an, Nachhaltigkeit beim Einkauf (Beschaffungsvorgängen) zu berücksichtigen
  • Verhaltenskodizes für Lieferanten mit einem Hinweis auf die Achtung der Menschenrechte sind weit verbreitet (knapp 90 Prozent)
  • Weniger als ein Viertel der Unternehmen führt nach den Angaben in ihrer Berichterstattung Lieferantenschulungen durch
  • Sehr selten sind positive Entwicklungsanreize für Lieferanten (Capacity Building), die über Schulungen hinausgehen

Wirksamkeitskontrolle: Nach dem neuen Gesetz sind Unternehmen verpflichtet, die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen jährlich oder bei wesentlichen Änderungen zu prüfen. Passiert das auch?

  • In der Praxis nutzen Unternehmen Selbstauskünfte und Prüfungen vor Ort, um sich ein Bild über ihre Lieferanten zu machen. Je nach Auftragswert, der Wahrscheinlichkeit für Menschenrechtsverletzungen in einem Land oder anderen möglichen Risiken werden Lieferanten ggf. in Audits überprüft. Die Anzahl solcher Kontrollen ist mit Blick auf die Gesamtzahl der Lieferanten sehr gering
  • Unternehmen beauftragen mitunter externe Dienstleister, um Lieferanten zu überprüfen. Nicht-Regierungsorganisationen kritisieren dabei die Qualität, die Methoden und fehlende Transparenz

Beschwerdemechanismus: Das Lieferkettegesetz verlangt für die Wahrung der Menschen- und Umweltrechte ein Beschwerdeverfahren im Unternehmen – für interne und externe Beschäftigte. Dabei soll für die Beschwerdeführenden Vertraulichkeit gelten. Sie sollen wegen ihrer Beschwerde vor Benachteiligung oder Bestrafung wirksam geschützt werden. Ist das in der Praxis so?

  • Mehr als 80 Prozent der Unternehmen haben einen Beschwerdemechanismus in Sachen Menschen- und Umweltrechte. Etwas mehr als die Hälfte der Unternehmen weist in ihrer Unternehmenskommunikation explizit darauf hin, dass das Beschwerdeverfahren auch externen Mitarbeitenden zur Verfügung steht
  • Etwas mehr als die Hälfte der Unternehmen erläutert das Beschwerdeverfahren auf der eigenen Homepage zumindest teilweise. Häufig wird die Form eines Frage- und Antwortformates genutzt

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