Quelle: HBS
: Der Blick aufs große Ganze: Von Globalisierung bis Heizungsgesetz
Pandemie, Krieg, Inflation - die Welt scheint aus den Fugen geraten. Gefühlt herrscht eine Dauerkrise. Doch wie sind wir dahin gekommen, und welche Chance können Zeiten des Umbruchs vielleicht auch bieten? Versuch einer Antwort.
Wer die Zukunft gestalten will, muss die Gegenwart verstehen – doch das wird zunehmend schwerer. „Viele Menschen haben das Gefühl, sie verstehen die Gegenwart nicht mehr“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Professor Gustav Horn, von 2005 bis 2019 wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung in der Hans-Böckler-Stiftung. „Sie fühlen sich überfordert von den vielen, sich überlappenden Krisen. Und auch von den Anforderungen, sei es als Arbeitnehmer, als Konsument oder Staatsbürger.“
Unsicherheit, Angst oder Wut sind selten gute Ratgeber. Das wachsende Bedürfnis nach Halt und Orientierung aber nutzen auch Populisten. Eine Zeit des Wandels und des Umbruchs kann so zu einer Bewährungsprobe werden – bis hin zu einer Herausforderung für Demokratien. Eine Analyse der jüngsten Vergangenheit kann helfen, die Gegenwart besser zu verstehen: Wie sind wir dahin gekommen?
Für Horn spielt die Globalisierung mit der zunehmenden Entstehung weltweiter Märkte für Waren, Kapital und Dienstleistungen sowie die damit verbundene internationale Verflechtung der Volkswirtschaften eine Schlüsselrolle. Als Ökonom sieht er die Globalisierung im Moment von einer Hyper- und Hysteriephase in eine rationale Phase übergehen – gerade wegen der großen Einschläge von der Finanzkrise über die Corona-Pandemie bis hin zum Krieg in der Ukraine. Vielleicht kann dieser Umbruch sogar eine Chance sein – von sichereren Lieferketten, weniger Outsourcing, guter Arbeit – bis hin zu besserem Klimaschutz?
Gustav Horn analysiert das vergangene Viertelhundert stark zusammengefasst so:
DIE EUPHORIE DER NULLERJAHRE: Globalisierung wird ein Megathema. Dahinter steht das Bedürfnis, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs neue Welten für die Marktwirtschaft zu öffnen: von Osteuropa bis China. Es geht darum, Lieferketten zu verlängern. Outsourcing – also Ausgliederung und Verlagerung von Produktion ins Ausland - wird ein Schüsselwort für viele Unternehmensleitungen. Denn die neuen Märkte versprechen billigere Produktionsstandorte im Vergleich zu den traditionellen Standorten wie Deutschland. Es kommt auch zu neuen Kreisläufen mit Gewinnern auf beiden Seiten. Zum Beispiel: Deutschland kauft billige Energie aus Russland und verkauft im Gegenzug Produkte vom Chip bis zur Maschine nach Russland. Für die Bundesrepublik zahlt sich das mit massiven Exportüberschüssen aus.
DIE KEHRSEITE: Im neuen globalen Wettbewerb gibt es Verlierer – auch in Deutschland. Über vier Millionen Menschen sind arbeitslos. Es kommt zu dem Glauben, auch im Inland billigere Produktionsstandorte bieten zu müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Lohnzurückhaltung wird empfohlen und das Verhältnis von Belegschaften zu Unternehmensleitungen verändert sich, Gewerkschaften verlieren an Einfluss. Eine politische Antwort ist die Agenda 2010, die soziale Sicherheit verringert. Die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse soll die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands stärken. Im Ergebnis weitet sich der Niedriglohnsektor aus. In dieser zunehmend neoliberalen Stimmung wird dem Staat mit Blick auf industriepolitische Zusammenhänge die Fähigkeit zur Regulierung weitgehend abgesprochen. Fiskalpolitik führt dazu, dass auch seine Einnahmemöglichkeiten begrenzt werden - Stichwort Schuldenbremse.
DER CRASH: Die Hyperglobalisierung macht die Welt instabiler und krisenanfälliger. 2008 gibt es die Quittung. Als bei einigen Banken in den USA Kredite platzten, trifft es das System weltweit. Banken beginnen in vielen Ländern, Formen von Risikokrediten zu scheuen. Eine davon ist die Exportfinanzierung. Unternehmen, die gerade ihre langen globalen Lieferketten aufgebaut haben, brauchen diese Finanzierung dringend für die Dauer des Transports ihrer Waren aus dem Ausland nach Deutschland. Doch in einer Zeit von Panik und weltweiter Unsicherheit geben die Banken dafür weniger Geld. Das führt zu einem Einbruch der Exportwirtschaft und trifft Deutschland massiv. Es ist nach dem Platzen der Dotcom-Blase der New Economy im Jahr 2000 die zweite Bruchstelle in der Hyperglobalisierung – doch dieser Riss geht an die Substanz.
DIE REAKTION: Der Einbruch des deutschen Bruttoinlandsprodukts um über fünf Prozent in den Jahren 2008/09 ist der tiefste der Nachkriegsgeschichte – bis heute. Das mag im Gedächtnis weniger verankert sein, weil es einen erfolgreichen Kurswechsel gibt. Die Regierung Merkel betreibt eine Politik, die zuvor gefeierte neoliberale Ideen ad absurdum führt: Der Staat gibt seine Zurückhaltung auf und greift ein: Er kurbelt Konjunkturprogramme an, die in den Nullerjahren als verpönt galten. Auch die Gewerkschaften finden wieder stärker Gehör und machen in dieser Zeit Vorschläge, die umgesetzt werden. Trotz der großen Krise bricht die Lage auf der Beschäftigungsseite im Ergebnis nicht so stark ein wie es zu erwarten gewesen wäre.
DIE LANGFRISTIGEN FOLGEN: Seit dem Crash denken Unternehmen stärker als vorher über Sicherheitspolster nach, zum Beispiel auch in Lieferketten. Wie wichtig das ist, zeigt zuerst die Corona-Pandemie als nächste große Krise ab 2020. Welche großen Lücken es jedoch weiterhin gibt, belegt der Ukraine-Krieg seit 2022. Deutschlands Abhängigkeit von nur einem Großlieferanten wie Russland im Energiesektor ist fatal für Wirtschaft und Haushalte. Die Hyperglobalisierung hat damit zwei weitere schwere Blessuren erlitten. Sie tritt in eine rationalere Phase. Auch Firmen achten noch stärker darauf, dass die eigene Produktion sicher sein muss. Es gibt trotzdem weiterhin gute Gründe für Globalisierung. Denn der wechselseitige Vorteil weltweiter Arbeitsteilung bleibt bestehen. Die Frage bleibt, wie fair er abläuft.
DIE ZUSÄTZLICHEN MEGATRENDS: Neben globalen Krisen in immer kürzeren Abständen gibt es mehrere unterschwellige Strömungen, die den Wandel antreiben:
- Digitalisierung: Sie wird noch einmal verstärkt durch Entwicklungssprünge bei der künstlichen Intelligenz in Produktionsprozessen. Das wird nicht allein die Arbeitswelt verändern.
- Klimakrise: Sie verlangt Sofort-Maßnahmen. Die Jahrhundert-Herausforderung sind größere Anteile erneuerbarer Energien statt fossiler Brennstoffe - bis hin zu einer Klimaneutralität innerhalb weniger Jahrzehnte.
- Demografische Entwicklung: Wenn viele westliche Industrieländer überaltern, verlangt auch das ein Umdenken, zum Beispiel bei der Einwanderungspolitik.
Heißgelaufen – was kann die Debatte um die Wärmewende lehren?
In der Theorie sehen viele Bundesbürger die zunehmende Erderwärmung als Gefahr und wünschen sich Gegenmaßnahmen. Wenn es aber um das eigene Portemonnaie geht, um den Klimawandel aufzuhalten, kann die Stimmung schnell kippen. Oder liegt es daran, wie Veränderung kommuniziert wird?
Wie schön wäre es, für aktuelle Herausforderungen wie den Klimaschutz eine Reparaturbox zu haben. Mit Werkzeugen, die erfahrene Monteurinnen und Monteure herausholen und sich mit Sachkunde an die Arbeit machen. Doch in einer Zeit des Umbruchs klappt das nicht immer: „Wir müssen das größtenteils erst alles lernen. Vieles kennen wir noch nicht. Auch das schafft Unsicherheit“, sagt Gustav Horn. Deshalb müsse der Staat wiederum in eine neue Rolle schlüpfen, um die nötigen Lern-Impulse mit öffentlichen Mitteln zu setzen, bis hin zur Produktentwicklung. Der Staat als Initiator von Innovationen - kann das in Deutschland klappen?
Interview
Heizungsgesetz: „Die breite Masse braucht finanzielle Unterstützung“
Freier Handel oder Protektionismus. Einmischung des Staates oder nicht. Die Gefahr von Populismus. An der Novelle des deutschen Gebäudeenergiegesetzes lässt sich deklinieren, was Umbruch und Wandel in der Praxis heißen können. Ein Gespräch mit Gustav Horn.
Eingriffe des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft sind nicht unumstritten. Muss es Ihrer Meinung nach mit Blick auf Wärmepumpe und Co. unbedingt sein?
Das Gut Klimaschutz wird vom Markt nicht bereitgestellt. Es ist weder im Interesse eines einzelnen Unternehmens noch eines einzelnen Haushaltes, dieses Gut anzubieten. Denn es ist teurer als der Status quo. Heizen mit Gas, Öl oder Kohle ist im Moment noch billiger als mit erneuerbaren Energien: In die müssen erst Investitionen fließen. Wenn wir einfach nur sagen: Wir brauchen Klimaschutz und nun macht mal - dann würde gar nichts passieren. Also muss der Staat eingreifen und die Anreize so setzen, dass etwas passiert.
Was gibt es schon in diesem Bereich?
Es gibt bereits Emissionszertifikate und den Handel damit. Kohlendioxid-Ausstoß hat also einen Preis bekommen. Im Moment ist er noch ziemlich niedrig. Aber wenn man bei den Emissionen auf Null kommen will, wird dieser Preis massiv steigen. Und das wird das Heizen mit Öl, Kohle und Gas in der Zukunft sehr teuer machen. Und das wiederum wird einen Anreiz setzen, anders zu heizen. Darüber hinaus haben wir durch den Ukraine-Krieg gelernt, dass importierte fossile Energie unsicher sein kann. Selbst produzierte Energie vor Ort ist also auch sicherer. Allerdings wird die Steuerung über den Preis allein nicht ausreichen. Zum einen kann dies zu Instabilitäten durch Spekulation führen und zum zweiten dürfte der zu erwartende Preisanstieg viele überfordern. Es bedarf also einer Flankierung durch Regulierung und finanzieller Kompensation.
Was halten Sie von der jüngsten politischen Debatte um das Heizungsgesetz und dem bisherigen Ergebnis?
In der Sache ist das Heizungsgesetz richtig. Kommunikativ war der Weg dorthin ein Desaster. In Zeiten der Unsicherheit muss eine Regierung auch Sicherheit und Zuversicht vermitteln. Kleinteiliger öffentlicher Streit ist das Gegenteil davon. Dann fühlen sich die Menschen überfordert und lehnen die Veränderungen ab.
Wie kann die Regierung die Bevölkerung mitnehmen? Insbesondere, wenn Begriffe wie Öko-Diktatur kursieren?
Das ist natürlich eine Frage der Kommunikation. Von Gegnern der Regierung wird teilweise der Eindruck erweckt, als müssten alle Öl- und Gasheizungen bis zum Jahr 2024 rausgerissen und eine Wärmepumpe eingebaut werden. Das ist natürlich völliger Unsinn. Die Heizungen werden dann ersetzt, wenn sie kaputtgehen. Niemand braucht vorzeitig eine Heizung austauschen, wenn er es nicht will.
Aber eine umweltgerechtere Heizung kostet viel Geld – wer will sie freiwillig?
Keine Frage: Die breite Masse der Bevölkerung braucht massive finanzielle Unterstützung für diesem Umstieg. Da geht es nicht nur um die Kosten der Wärmepumpe, sondern bei Altbauten möglicherweise auch für die Vorbereitung, damit sie funktioniert: Dämmung, Solarzellen, bestimmte Heizkörper. Wir reden hier über große Summen, die unter diesen Umständen gegebenenfalls pro Haushalt bereitgestellt werden müssen, damit Leute sich das leisten können.
Also Milliarden Euro für pure Subventionierung?
Ja, aber natürlich werden wir gleichzeitig technologischen Fortschritt erleben. Es wird Angebote geben, die diese Regulierung möglichst kostengünstig erfüllen. Ob das eine Wärmepumpe ist, kann niemand voraussagen. Es mag andere Formen geben, wo Wärmepumpen nicht sinnvoll sind, zum Beispiel Fernwärme. Da gibt es ja mancherorts schon eine Infrastruktur. Kann man die nicht nutzen, damit da ein klimafreundliches Gut herauskommt? Da muss ein Innovationsschub her, aber er wird erst ausgelöst durch die Regulierung. Der Staat gibt einen Impuls an die Wirtschaft: macht mal, es lohnt sich!
Hat es so etwas schon einmal gegeben?
Ja, in den USA war das zum Beispiel das Silicon Valley. Bei uns denke ich an Katalysatoren in der Automobilindustrie. Wir haben vor Jahrzehnten über Phänomene wie den „sauren Regen“ diskutiert, weil Abgase gerade in der Nähe von Straßen Boden und Wald zerstört haben. Da hat die Regierung auch reguliert, dass Autos nur eine bestimmte Höhe von Emissionen ausstoßen dürfen. Das wurde mit Katalysatoren gelöst. Heute sind sie eine Selbstverständlichkeit.
Aber was passiert, wenn die Bundesbürger ihre Regierung wegen ungeliebter neuer Heizungen abwählen?
Das kann passieren. Insbesondere, wenn die AfD und in Teilen auch CDU und FDP eine Art fossile Nostalgie pflegen. Da wird der unterschwellige Eindruck erzeugt, als könne man diese Unbill irgendwie vermeiden unter dem Motto: früher war alles besser. Doch das ist ein Riesenirrtum. Es ist auch eine Irreführung der Bevölkerung. Beispielsweise würde die CDU auch etwas machen müssen, wenn sie an der Regierung wäre. Daran kommt keiner vorbei. Da kann man über Konzepte streiten, aber nicht über das Ergebnis.
In den Köpfen ist diese Logik aber wohl noch nicht überall angekommen. Was läuft das schief?
Es geht um Teilhabe. Menschen müssen sich als Gestalter dieses Prozesses empfinden, nicht als Opfer. Die USA machen uns das mit ihrem Gesetz „Inflation Reduction Act“ gerade ganz explizit vor. Dieses Gesetz gibt Anreize, dass in Unternehmen der Mut zu Innovation und gewerkschaftlicher Beteiligung belohnt wird. Also dass gute Arbeit entsteht und kein Lohndumping. In Deutschland haben wir diese Formen der Mitbestimmung ja schon. Wir können auf bestehenden Institutionen aufbauen. Nur Unternehmen mit Innovationen für besseren Klimaschutz sollten bei uns staatliche Förderung bekommen. Und damit müssen sie dann auch gute Arbeitsplätze schaffen. Das gibt Beschäftigten wiederum ein Einkommen, von dem sie sich dann auch eine neue Heizung kaufen können. So können sich Menschen als Profiteure des Klimawandels empfinden. Dahin müssen wir kommen.
Klingt gut. Aber triggert das nicht einen Subventionswettlauf als neuen globalen Trend?
Ein Subventionswettlauf mit Augenmaß nutzt. Es geht um die Erzeugung von klimaschonenden Gütern. Die müssen im globalen Maßstab produziert werden. Das nützt ja nichts, wenn wir das nur in Deutschland machen oder nur in Europa. Deshalb ist ein globaler Wettbewerb gut. Wenn wir an anderen Orten der Welt weiter klimafeindlich produzieren, ist nichts gewonnen – außer vielleicht für einzelne Unternehmen.
Weiterlesen: In einer Zeit des Umbruchs. Working Paper Forschungsförderung vom Mai 2023