Quelle: Daniel Schoenen
Interview mit Daniel Seikel, 24.01.2025: Der europäische Rückenwind für armutsfeste Mindestlöhne wäre dahin
Am 14. Januar hat der Generalanwalt am EuGH eine Annullierung der EU-Mindestlohnrichtlinie empfohlen. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Richter*innen seinem Votum folgen werden? Und was wären die Konsequenzen?
Am 14. Januar hat der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof (EuGH) seine Schlussanträge zu einer dänischen Klage gegen die europäische Mindestlohnrichtlinie veröffentlicht. Darin empfiehlt der Generalanwalt, die Mindestlohnrichtlinie zu annullieren. Die Richtlinie sei nicht von den gesetzgeberischen Kompetenzen der EU gedeckt. Die Mindestlohnrichtlinie zielt darauf ab, angemessene Mindestlöhne sicherzustellen und Tarifverhandlungen zu stärken. Die Richtlinie gibt dazu keine Mindestlohnsätze vor, sondern macht prozedurale Vorgaben zu den Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen. Mitgliedstaaten ohne gesetzlichen Mindestlohn, so wie Dänemark, werden aber nicht dazu verpflichtet, einen Mindestlohn einzuführen. Außerdem erlegt sie den Mitgliedstaaten die Pflicht auf, Aktionspläne zur Erhöhung der Tarifbindung zu erstellen, wenn Tarifverträge weniger als 80 Prozent der Beschäftigten abdecken. Dazu sprachen wir mit Daniel Seikel, Referatsleiter für Europäische Politik am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.
Der Generalanwalt am EuGH hat empfohlen die Mindestlohnrichtlinie zu annullieren. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Richter*innen seinem Votum folgen werden?
Seikel: Der EuGH folgt den Schlussanträgen des Generalanwaltes in etwa Dreiviertel der Fälle. Damit ist die Gefahr real, dass die Mindestlohnrichtlinie annulliert wird.
Mit welchen Folgen?
Seikel: Die Mindestlohnrichtlinie enthält zwar nur wenige konkrete Vorgaben, aber wenn sich die Mitgliedstaaten an den unverbindlichen Kriterien der Richtlinie für die Mindestlohnbemessung orientieren würden, dann würden sich auf einen Schlag die die Arbeitsbedingungen von Millionen Europäer*innen spürbar verbessern – übrigens auch hier in Deutschland. Eine Annullierung der Richtlinie würde Mitgliedstaaten zwar nicht darin einschränken, Mindestlöhne zu erhöhen. Aber der europäische Rückenwind für armutsfeste Mindestlöhne wäre dahin. Außerdem könnte eine Annullierung auf Jahre hinaus die sozialpolitische Gesetzgebung der EU hemmen, selbst wenn eine Annullierung dafür gar keine rechtliche Begründung liefern würde. Der politische Schaden einer Annullierung ist also absolut nicht zu unterschätzen.
Ließe sich eine Annullierung nachträglich korrigieren?
Seikel: Nein. Das Urteil kann nicht mehr angefochten werden. Der Urteile des EuGH haben praktisch Verfassungsrang. Eine nachgelagerte politische Korrektur durch eine Änderung der europäischen Verträge, die es für eine Korrektur bräuchte, ist extrem unwahrscheinlich, sie liegt praktisch bei null.
Warum?
Seikel: Dazu bräuchte es Einstimmigkeit, und mindestens Dänemark, das die Klage gegen die Richtlinie eingereicht hat, würde hier nicht mitziehen. Das gilt aber auch mit ziemlicher Sicherheit für eine Reihe anderer Mitgliedstaaten. Überhaupt ist der Appetit der Mitgliedstaaten auf Vertragsänderungen sehr überschaubar.
Ist es denn zwingend, dass sich die Richter*innen der Begründung des Generalanwaltes anschließen?
Seikel: Zwingend ist das nicht. Der Generalanwalt bezweifelt, dass die Mindestlohnrichtlinie von den gesetzgeberischen Kompetenzen der EU gedeckt ist. Konkret geht es darum, ob die Mindestlohnrichtlinie gegen die sog. Sperrklausel des Artikels 153 Absatz 5 AEUV verstößt. Diese besagt, dass das Arbeitsentgelt ausdrücklich aus den sozialpolitischen Kompetenzen der EU ausgenommen ist. Wie streng diese Sperrklausel auszulegen ist, also etwa, ob sie wirklich jede Gesetzgebung verunmöglicht, die in irgendeiner Form Auswirkungen auf Arbeitsentgelte hat, ist aber eine Auslegungsfrage. Diese Frage ist schlicht noch nicht abschließend rechtlich geklärt. Hier gibt es also keine von vornherein feststehende Antwort. Andernfalls wäre der Fall auch nicht vor dem EuGH gelandet. Die Richter*innen können also durchaus zu einer anderen Bewertung als der Generalanwalt kommen.
Was spricht dafür, dass der EuGH dem Generalanwalt nicht folgt?
Seikel: Die EuGH-Richter*innen werden die Argumente der Klagegegner und des Generalanwaltes gewissenhaft gegeneinander abwägen. Sie werden die sich unisono für eine Klageabweisung aussprechenden Stellungnahmen von Europäischem Rat, Europäischem Parlament und der Europäischen Kommission ganz sicher nicht einfach leichtfertig verwerfen. Eine Annullierung würde schließlich bedeuten, dass die europäischen Institutionen unionsrechtwidrig gehandelt hätten. Neben den rein rechtlichen Aspekten sind die Richter*innen aber auch gut beraten, die politischen Konsequenzen einer Annullierung äußerst sorgfältig zu durchdenken. Eine Annullierung würde all die politischen Kräfte frustrieren, die sich für die Richtlinie eingesetzt haben. Dabei handelt es sich ausgerechnet um die entschiedensten Unterstützer der europäischen Integration, die ich kenne. Der Schaden, den die Reputation und Akzeptanz nicht nur des EuGH, sondern der gesamten EU nehmen könnte, ist kaum abzusehen.
Die englischsprachige Fassung des Interviews steht hier zur Verfügung.
Zum Weiterlesen
Thorsten Schulten/Torsten Müller: Die EU-Mindestlohnrichtlinie vor dem Europäischen Gerichtshof. WSI-Blog Work on Progress