Quelle: HBS
Böckler ImpulsMedizintechnik: Zwischen Wettbewerbsdruck und Innovation
Die Medizintechnik ist für Deutschland eine wichtige Wachstumsbranche. Um bestehen zu können, braucht sie die Unterstützung der Politik und die Mitbestimmung der Beschäftigten.
Die deutsche Medizintechnikbranche steht vor technologischen, regulatorischen, wirtschaftlichen und gesundheitspolitischen Herausforderungen. Die Digitalisierung treibt die Entwicklung neuer Produkte und Herstellungsverfahren voran. Das bietet enorme Chancen. Gleichzeitig befindet sich die Branche in einer Phase des Umbruchs und ist wachsendem Wettbewerb ausgesetzt. Wie sich das auf die Unternehmen in Deutschland und die Beschäftigten auswirkt, hat ein Team von Forschenden des VDI Technologiezentrums im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung untersucht. Die Forscherinnen und Forscher werteten dazu umfangreiches Datenmaterial sowie Fachliteratur und Marktprognosen aus. Ergänzt wurde die Analyse durch Interviews mit Expertinnen und Experten aus Unternehmen, Verbänden, Betriebs- und Aufsichtsräten.
Gemessen am Umsatz und an der Zahl der Beschäftigten zählt die Medizintechnik zu den aufstrebenden Branchen in Deutschland. Auf dem Weltmarkt sind deutsche Unternehmen stark vertreten – sie erwirtschaften rund ein Viertel des weltweiten Umsatzes. Allerdings wächst die Konkurrenz, vor allem aus den USA, aber auch aus China und Indien. Zudem sind die globalen Lieferketten seit der Corona-Pandemie und anderen internationalen Krisen unter Druck geraten. Die besondere Herausforderung besteht darin, in dieser Situation gleichzeitig die heimischen Standorte zu stärken und die Präsenz im Ausland auszubauen.
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Umsatz steigt dank Exporten
Die Unternehmen der deutschen Medizintechnikbranche erwirtschafteten 2022 einen Umsatz von insgesamt 38,4 Milliarden Euro. Zwischen 2014 und 2022 stieg der Umsatz um 51 Prozent, was einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von 5,7 Prozent entspricht. Das größte Plus verzeichneten Großunternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten. Besonders stark entwickelten sich die Geschäfte im Ausland: Die Exportquote der Branche stieg zwischen 2014 und 2022 von 64 Prozent auf 67 Prozent. Zur Jahrtausendwende lag sie noch bei rund 50 Prozent, Anfang der 1990er-Jahre bei rund 40 Prozent.
Überdurchschnittliches Beschäftigungswachstum
Im Jahr 2022 waren in Deutschland knapp 160 000 Beschäftigte in Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten tätig. Zwischen 2014 und 2022 sind rund 34 500 Arbeitsplätze entstanden. Damit ist die Zahl der Beschäftigten seit 2014 im Schnitt um 3,1 Prozent pro Jahr gestiegen – deutlich stärker als im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt, das ein jährliches Wachstum von lediglich 0,4 Prozent aufwies.
Mittelstand dominiert die Branche
Die Branche gliedert sich im Wesentlichen in zwei Bereiche: Erstens die Herstellung von medizinischen und zahnmedizinischen Apparaten und Materialien. Hier arbeiteten 2022 rund 136 000 Beschäftigte in 1414 Betrieben, die einen Umsatz von 28,7 Milliarden Euro erzielten. Zweitens die Herstellung von Bestrahlungs- und Elektrotherapiegeräten und elektromedizinischen Geräten. Hier waren 24 000 Beschäftigte in 53 Betrieben tätig. Der Umsatz belief sich auf 9,7 Milliarden Euro.
Die Branche ist insgesamt mittelständisch geprägt: 93 Prozent der Unternehmen sind kleine und mittlere Unternehmen mit weniger als 250 Beschäftigten. Nur vier Prozent haben zwischen 250 und 499 Beschäftigte, drei Prozent haben 500 und mehr. Die beiden Teilbereiche der Branche sind etwas unterschiedlich strukturiert: Im Bereich elektromedizinische Geräte waren 2022 rund 76 Prozent kleine und mittlere Unternehmen, im Bereich medizinische Apparate und Materialien sogar 94 Prozent.
Revolution durch Digitalisierung und KI
Wie sich die Branche angesichts globaler Krisen, zunehmender Regulierung, gesellschaftlicher Veränderungen und technologischer Fortschritte entwickeln wird, ist schwer vorherzusagen. Einige Trends zeichnen sich jedoch deutlich ab, etwa dass die demografische Entwicklung und die Digitalisierung eine entscheidende Rolle spielen werden. Die Forschenden stellen folgende Thesen zur zukünftigen Entwicklung auf:
Die fortschreitende Integration von künstlicher Intelligenz (KI) und Big Data in die Medizintechnik wird zu einer „Revolution in der personalisierten Medizin“ führen. Die Entwicklung geht hin zu immer feineren Diagnosewerkzeugen und maßgeschneiderten Behandlungsstrategien, die individuelle genetische und gesundheitliche Profile berücksichtigen.
Um mit der rasanten Entwicklung Schritt halten zu können, sind umfassende Bildungs- und Qualifizierungsinitiativen erforderlich. Dazu gehört eine spezialisierte Weiterbildung für medizinisches Personal in den Bereichen Robotik, Datenanalyse und KI-Anwendungen.
Der Umgang mit Gesundheitsdaten und der Zugang zu medizinischen Technologien werden komplexer und ethisch anspruchsvoller. Neue Standards für die Datensicherheit und die Nutzung von Patientendaten sind notwendig, insbesondere in Bereichen wie genetischem Screening und KI-gestützter Diagnostik.
Die Verwendung umweltfreundlicher Materialien, die Energieeffizienz medizinischer Geräte und die Einführung von Recyclingverfahren für medizinische Produkte werden künftig eine größere Rolle spielen.
Die schnelle Anpassung an neue regulatorische Rahmenbedingungen, insbesondere an die EU-Medizinprodukteverordnung, wird für Medizintechnikunternehmen in Deutschland noch wichtiger werden.
Die Finanzierung von Innovationen wird nur möglich sein, wenn die Unternehmen alternative Finanzierungsquellen wie Risikokapital, öffentliche Fördermittel oder strategische Partnerschaften erschließen.
Die Branche wird sich zunehmend auf die Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen für globale Herausforderungen wie die Bekämpfung von Pandemien oder die Versorgung alternder Bevölkerungen konzentrieren.
Unterstützung durch Politik und mehr Mitbestimmung
Die Medizintechnik ist in hohem Maße innovationsgetrieben. Um im globalen Wettbewerb bestehen zu können, müssen Unternehmen am Standort Deutschland erfinderisch sein und sich frühzeitig auf neue Märkte ausrichten. Dazu benötigen sie nach Ansicht der Forscherinnen und Forscher die Unterstützung der Politik: „Um neue Produkte und Technologien zu entwickeln, muss für Medizintechnikunternehmen im Bereich Forschung und Entwicklung in Deutschland und Europa ein Umfeld geschaffen werden, in dem Innovationen ermöglicht und Investitionen gefördert werden.“ Dazu gehören industriepolitische Maßnahmen zur Sicherung des Forschungs- und Produktionsstandortes – so wie es andere vormachen. Die USA haben mit dem Inflation Reduction Act ein Instrument geschaffen, das auch für Medizintechnikunternehmen attraktive Fördermöglichkeiten bietet und Firmen aus Deutschland anzieht.
Eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen in Deutschland spielen nach Ansicht der Forscherinnen und Forscher auch die Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Qualifizierung. Aufgrund der technologischen Neuerungen und der Transformation der Branche sind spezielle Qualifizierungsmaßnahmen unerlässlich. Da die betrieblichen Interessenvertretungen und die Beschäftigten die Arbeitsabläufe am besten kennen, können sie zum Beispiel darauf hinwirken, dass Weiterbildungsmaßnahmen angeboten werden, die den tatsächlichen Bedürfnissen der Beschäftigten entsprechen und zielführend sind. Allerdings werde die Mitbestimmung in den Unternehmen derzeit „teils variabel gehandhabt“, so die Forschenden. In den Interviews gaben einige Betriebsräte an, dass sie etwa bei Digitalisierungsmaßnahmen einbezogen werden. Teilweise wurden die Beschäftigten jedoch erst am Ende eines Prozesses oder gar nicht beteiligt. Gerade in einer mittelständisch geprägten Branche wie der Medizintechnik besteht bei der Durchsetzung von Mitbestimmungsrechten noch Nachholbedarf.
Karsten Werner u.a. : Branchenanalyse Medizintechnik (pdf), Working Paper der HBS-Forschungsförderung Nr. 341, Juli 2024