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HBS Böckler Impuls

Mitbestimmung: Zonen der Ratlosigkeit

Ausgabe 03/2009

Welche Unternehmen haben keinen Betriebsrat? Soziologen der TU München unterscheiden vier Unternehmens-Typen ohne Interessenvertretung. Es zeigt sich: Betriebsräte fehlen gerade da, wo sie am nötigsten wären.

Ganz unterschiedliche Gründe können dazu führen, dass ein Unternehmen keinen Betriebsrat hat. In der Discounter-Filiale etwa hintertreibt die Geschäftsleitung die Gründung des dringend benötigten Gremiums. Im erfolgreichen Industriebetrieb erfahren die Beschäftigten so viel Anerkennung, dass sie eine formale Vertretung kaum vermissen. Und im jungen IT-Unternehmen ist der Interessengegensatz zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten noch nicht aufgebrochen.

Warum es mancherorts keine betriebliche Mitbestimmung gibt und wie in diesen Unternehmen Management und Beschäftigte miteinander umgehen, haben Soziologen der TU München erforscht. Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützten Wissenschaftler stellen nach zahlreichen Fallstudien fest: Wo es an Betriebsräten fehlt, werden "Konflikte systematisch individualisiert". Die Beschäftigten bekommen das mit unterschiedlicher Härte zu spüren - je nachdem, welchem Typ ihr Unternehmen zuzuordnen ist. Die Forscher haben vier Zonen der Betriebsratlosigkeit identifiziert.

Zone 1: Prekäre Dienstleistung
Der Mangel an Arbeitnehmervertretung ist besonders misslich für die meist prekär Beschäftigten von Discountern, Wachdiensten, von Betrieben der Gebäudereinigung und im Gastgewerbe. Stefan Lücking, Mitglied des Münchener Forscherteams, schreibt in einem Beitrag für die WSI Mitteilungen: "Ausgerechnet in dem Bereich, in dem eine effektive Interessenvertretung besonders nötig wäre, existieren nur in Ausnahmefällen Betriebsräte." Das ist in aller Regel von den Arbeitgebern so gewünscht, bereits die Organisation des Betriebes soll eine gemeinsame Interessenartikulation der Belegschaft behindern. Selbst wenn der Arbeitgeber ein Konzern wie Lidl oder Schlecker ist, existiert doch in den Filialen eine kleinbetriebliche Sozialstruktur, "in der jeder jeden kennt und Konflikte schnell zu persönlichen Auseinandersetzungen führen". Um die Arbeitszeit mit Familienzeiten in Einklang zu bringen, brauchen Teilzeitkräfte und Minijobber ein gutes Verhältnis zum Chef. Bei solchen Abhängigkeiten lässt man es lieber nicht auf einen Streit über Arbeitnehmerrechte ankommen. Die Beschäftigtenstruktur erschwert zudem die Gruppenbildung: Teilzeitkräfte machen keine gemeinsame Pause.
Prekär Beschäftigte können nicht mal damit rechnen, dass der Arbeitgeber sie in irgendeiner Form für seine Betriebsratsfeindlichkeit entschädigt. Amerikanische Unternehmen dieser Art "setzen auf eine starke Corporate Identity und eine symbolische Politik der Anerkennung", schreibt Lücking.

Die Discount-Ketten aus Deutschland können sich noch nicht einmal dazu durchringen: "Kein freundliches Wort, kein Lob, keine Auszeichnungen. Stattdessen werden Beschäftigte von ihren Vorgesetzten angeschrieen, beleidigt oder mit einer Abmahnung bedroht. Es herrscht eine Kultur des Misstrauens." Diese Unternehmen versuchen mit legalen wie illegalen Mitteln, die Bildung von Betriebsräten zu verhindern. Trotzdem haben die Münchener Wissenschaftler auch erfolgreiche Gründungen beobachtet. In diesen Fällen wechselte die Strategie der Arbeitgeber anschließend: Das neue Ziel lautete, einen Gesamtbetriebsrat zu verhindern.

Zone 2: Familienunternehmen
Etwas besser sind die Bedingungen in patriarchalisch geführten Familienunternehmen, wo die Gunst des Chefs wichtiger ist als eine objektive Leistungsbewertung. Die Beschäftigten der untersuchten Unternehmen akzeptieren die Strukturen, solange sie glauben, das Beste für sich rauszuholen. Manchmal eröffnet die persönliche Gunst auch ohne formale Qualifikation Aufstiegschancen, die in anderen Unternehmen nicht möglich wären, analysiert Lücking. Die Unternehmensführung behauptet, alle hätten die gleichen Interessen: den Erhalt des Standortes. Konflikte führen in diesem Klima leicht zu Entlassungen. "Jede Form von Kritik wird von vorneherein stigmatisiert", so die Studie. Führungskräfte verstehen daher die Gründung von Betriebsräten als persönliche Beleidigung.

Den Tabubruch, einen Betriebsrat zu gründen, begeht man in solchen Unternehmen nur, wenn viel zu gewinnen oder zu verlieren ist. In einer Auto-Werkstatt-Kette war Letzteres der Fall: Es kam zu "einer spürbaren Verschlechterung der Arbeitsbedingungen" in Folge der Übernahme des ehemaligen Familienunternehmens durch Finanzinvestoren. Damit war die Belegschaft nicht mehr nur dem Druck der Absatzmärkte, sondern auch dem der Investoren ausgesetzt, so Lücking. Der ursprüngliche Paternalismus verlor den Spielraum zur Fürsorge.

Zone 3: New Economy
Betriebsräte sind in der Computer-Branche bislang noch rar. Das Management lehnt betriebliche Interessenvertretungen in der Regel ab, auch Tarifverträge bilden nicht einmal einen entfernten Bezugspunkt für die Arbeitsverträge. Die Soziologen sprechen in einigen Fällen von einem "neopaternalistischen Orientierungsmuster". In einigen Software-Häusern geht die Personalführung davon aus, dass sie letztlich am besten weiß, was im Interesse der Mitarbeiter ist. Soweit es dem Unternehmen nutzt, gewährt das Personalwesen den Beschäftigten weitgehende Autonomie.

Die Beschäftigten der untersuchten Unternehmen nehmen ihrerseits bereitwillig Phasen mit exzessiven Arbeitszeiten hin. Die Bereitschaft zu Gremienarbeit ist dagegen gering. Lücking nennt zwei Gründe: Die Beschäftigten sind stark auf die eigene Arbeit fixiert. Und in der jungen IT-Branche verändert sich das spezifische Wissen stetig, eine Auszeit für Gremienarbeit würden viele als Karriererisiko wahrnehmen. Personaler berufen bei Konflikten darum gerne alternative Gremien. Das hat für sie den Vorteil, dass sie selbst darüber entscheiden können, wer mit am Tisch sitzen darf. Doch nicht immer geht das Kalkül auf. Die Belegschaften zweier untersuchter Unternehmen gründeten einen Betriebsrat, in beiden Fällen waren betriebliche Umstrukturierungen der Anlass. Dies zeigt den Experten zufolge, dass in wissensbasierten Unternehmen das nötige Selbstbewusstsein da ist - wenn denn mal der Interessenkonflikt von Arbeitgebern und Arbeitnehmern offen zu Tage getreten ist.

Zone 4: Hochspezialisierte Industrie
Ein Sonderfall sind sehr spezialisierte Industrieunternehmen, die eine Nische am Weltmarkt gefunden haben. Oft in ländlichen Gebieten angesiedelt, haben sie kaum mehr als 100 Beschäftigte, überwiegend gut qualifizierte männliche Facharbeiter. Das Geschäftsmodell dieser Betriebe besteht darin,  hohe Qualität zu entsprechenden Preisen zu liefern, und das möglichst flexibel. Das erklärt auch den Charakter der Beziehung zwischen Unternehmen und Beschäftigten, so Lücking. Es wird gutes Geld gegen Flexibilität getauscht, Vertrauen gegen Loyalität. Die Arbeitsverträge sind nicht tarifgebunden, sie lehnen sich aber durchaus an Tarifverträgen an, auch die Beziehungen zwischen Management und Belegschaft orientiert sich an den Umgangsformen in mitbestimmten Unternehmen. Die beiden Seiten agieren so, als ob es bereits einen Betriebsrat gebe. Die Arbeitgeber sorgen sich, das Gremium würde Abstimmungsprozesse verlängern, darum sprechen sie sich nicht für die Gründung einer Interessenvertretung aus. Aber sie "versuchen nicht, einen Betriebsrat mit allen (auch unerlaubten) Mitteln zu verhindern, sondern bieten den Beschäftigten stattdessen andere, informellere Formen der Interessenvertretung an". Nur in solchen Unternehmen hatten gewählte Belegschaftssprecher eine ernsthafte Rolle, stellt Lücking fest. Ansonsten haben alternative Vertretungsformen in den drei anderen Zonen der Betriebsratlosigkeit keine Bedeutung.

  • Doppelter Schirm: In Westdeutschland steht jeder dritte Arbeitnehmer unter dem Schutz von Tarifverträgen und zugleich unter dem eines Betriebsrats. Im Osten ist es nur jeder fünfte. Zur Grafik
  • Wo Mitbestimmung häufig und wo sie rar ist – kleine Betriebe haben seltener eine Interessenvertretung der Arbeitnehmer. Zur Grafik
  • Oft mit Druck, manchmal jedoch auch auf Augenhöhe - so funktioniert das Miteinander von Management und Belegschaft in den verschiedenen betriebsratsfreien Zonen. Zur Grafik

Stefan Lücking: Zwischen Neopaternalismus und Repression, in: WSI-Mitteilungen 2/2009

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