Quelle: HBS
Böckler ImpulsWirtschaftspolitik: Wohlfahrtsgewinn mit Schattenseiten
Der Nationale Wohlfahrtsindex verzeichnet für 2022 ein deutliches Plus. Das liegt vor allem am Konsum und weniger Energieverbrauch – der allerdings auch eine Folge des Preisschocks war.
Als Maßstab für den Wohlstand der Nationen dient traditionell das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Es gibt den Wert sämtlicher Güter und Dienstleistungen wieder, die innerhalb eines Jahres erwirtschaftet worden sind – und vernachlässigt nach Ansicht kritischer Fachleute unter anderem ökologische und soziale Aspekte. Um diesem Mangel abzuhelfen, wurde der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) entwickelt, der auf insgesamt 21 Komponenten beruht. Als wohlfahrtssteigernd gelten dabei zum Beispiel höhere private Konsumausgaben sowie Wertschöpfung durch ehrenamtliche Arbeit, weniger Emissionen von Treibhausgasen oder der Schutz der Biodiversität. Negativ verbucht werden unter anderem Einkommensungleichheit, Luftverschmutzung oder Schäden durch Naturkatastrophen. Benjamin Held, Dorothee Rodenhäuser und Hans Diefenbacher vom Institut für Interdisziplinäre Forschung in Heidelberg haben in einer vom IMK geförderten Studie den NWI für 2022 berechnet. Demnach hat der Index gegenüber 2021 um 9,9 Punkte zugelegt, mehr als je zuvor seit 1991. Er beträgt nun 103,8 Punkte, wobei der Wert 100 dem Niveau im Jahr 2000 entspricht.
Ausschlaggebend für diese Entwicklung waren laut den Forschenden die starken Zuwächse bei den Konsumausgaben: Knapp die Hälfte des NWI-Anstiegs gehe auf sie zurück. Positiv auf den Konsum hätten sich vor allem die Normalisierung und die Nachholeffekte nach dem Ende der Corona-Pandemie ausgewirkt, aber auch staatliche Entlastungsmaßnahmen wie das Neun-Euro-Ticket, das Energiegeld oder der Heizkostenzuschuss, die die Auswirkungen der Inflation deutlich abgemildert haben. Energieeinsparungen hätten gleichzeitig die Umweltkosten sinken lassen. Ein wesentlicher Grund dafür sei allerdings gewesen, dass wegen des Energiepreisschocks und der drohenden Mangellage infolge des Ukrainekrieges die Produktion energieintensiver Betriebe gedrosselt und der private Verbrauch gesenkt wurden. Die negativen Wohlfahrtswirkungen dieser „extern verursachten“ Einsparungen wie Jobverluste oder Beeinträchtigungen des Wohlbefindens vermöge der NWI nur zum Teil abzubilden, weil sie sich erst mit Verzögerung zeigen oder außerhalb der Erhebungssystematik liegen. Ein weiterer Teil der Steigerung beim NWI sei darauf zurückzuführen, dass es im vergangenen Jahr keine so verheerende Naturkatastrophe gegeben habe wie 2021 an Ahr und Erft. Dass das Plus nicht noch größer ausgefallen ist, hänge mit der hohen Inflation und den wieder zunehmenden Emissionen im Flugverkehr zusammen.
In der Studie findet sich auch eine erste Einschätzung zum Jahr 2023, die allerdings „mit großer Unsicherheit“ behaftet sei, da die nötigen Daten größtenteils noch nicht vorliegen. Zumindest ein ähnlich hoher Anstieg wie 2022 könne aber ausgeschlossen werden: Vorliegende Konsumdaten deuteten eher auf einen Rückgang in Zeiten schwacher Konjunktur und weiter hoher Preise hin. Andererseits ergebe sich aus vorläufigen Berechnungen, dass der Energieverbrauch und die damit verbundenen Emissionen im ersten Halbjahr 2023 gesunken sind. Wie schon während der Coronakrise sei diese Entwicklung jedoch nicht uneingeschränkt positiv zu bewerten, da es sich zum Teil um unfreiwillige Rückgänge oder Einschränkungen handelt. Ob der NWI 2023 letztlich steigen oder fallen wird, hänge vom zweiten Halbjahr ab.
Die Fachleute haben sich auch die Entwicklung in den vergangenen 30 Jahren angeschaut. Dabei falle auf, dass das BIP seit 1991 nahezu kontinuierlich gewachsen ist, um insgesamt 47 Prozent. Deutliche Einbrüche habe es nur 2009 infolge der Finanzkrise und 2020 wegen der Corona-Pandemie gegeben. Beim NWI dagegen sei ein „Wechsel zwischen Auf und Ab“ festzustellen, in Summe habe er sich kaum erhöht und liege 2022 nur knapp über dem Wert des Jahres 2000. Der Hauptgrund dafür sei die Ungleichheit, deren Kosten sich seit 1991 um 453 Milliarden Euro erhöht haben. Dass unter dem Strich überhaupt ein Zugewinn zu verzeichnen ist, liege vor allem an den Konsumausgaben, die preisbereinigt um 350 Milliarden Euro zugelegt haben, und am Staatskonsum, der um 186 Milliarden Euro gestiegen ist.
Für nachhaltig höhere NWI-Werte empfehlen die Forschenden der Politik, die Bereiche Umweltkosten und Ungleichheit ins Visier zu nehmen – zwei „zentrale Aspekte der sozial-ökologischen Transformation“. Den potenziellen Nutzen veranschaulichen sie anhand von zwei Szenarien. Zum einen haben sie berechnet, wie sich die Erfüllung der im Klimaschutzgesetz und im Koalitionsvertrag verankerten Ziele zum Ausbau der erneuerbaren Energien und zur Senkung der Treibhausgasemissionen auswirken würde. Das Ergebnis: Wenn zusätzlich unterstellt wird, dass die Stromgestehungskosten für erneuerbare Energie durch den technologischen Fortschritt und Skaleneffekte jährlich um drei Prozent sinken, steigt der NWI um 13,6 Punkte. In einem zweiten Szenario wurde angenommen, dass es gelingt, bei der Einkommensverteilung wieder das niedrigere Ungleichheitsniveau von 1999 zu erreichen. In diesem Fall würde der NWI um 17,5 Punkte zulegen. Kombiniert man beide Szenarien, ergibt sich ein Plus von 31 Punkten.
Benjamin Held, Dorothee Rodenhäuser, Hans Diefenbacher: NWI 2023 – starker Anstieg durch mehr Konsum, Energieeinsparungen und geringere Schäden durch Naturkatastrophen, IMK-Study Nr. 89, Dezember 2023