Quelle: HBS
Böckler ImpulsArbeitsmarkt: Wo Bayern hinten liegt
Bei der Tarifbindung ist Bayern das Schlusslicht in Westdeutschland. Für die Beschäftigten ist das schlecht: Ohne Tarif drohen niedrigere Löhne und längere Arbeitszeiten.
Im Ländervergleich kann Bayern mit einigen Superlativen aufwarten. Es gibt hier die höchsten Berge, das größte Volksfest, die meisten Brauereien. Weniger rühmlich steht der Freistaat da, wenn es um das Tarifsystem geht: Nur gut die Hälfte der Beschäftigten arbeitet laut einer Studie des WSI-Tarifarchivs in tarifgebundenen Betrieben. Bayerische Betriebe seien „ausgesprochene Tarifmuffel“, urteilen Thorsten Schulten, Malte Lübker und Reinhard Bispinck.
Für ihre Analyse haben die WSI-Forscher Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und des Statistischen Bundesamts ausgewertet. Tarifverträge gelten demnach für 53 Prozent der Arbeitnehmer in Bayern, das damit auf dem letzten Platz unter den alten Bundesländern landet. Sachsen-Anhalt liegt gleichauf mit Bayern, die übrigen ostdeutschen Länder schneiden noch schlechter ab.
Seit Mitte der 1990er-Jahre habe die Tarifbindung in Bayern ebenso wie im Rest der Republik deutlich abgenommen, schreiben die Wissenschaftler. Allerdings sei der Rückgang im Freistaat besonders stark ausgefallen, vor allem im vergangenen Jahrzehnt. Noch 1995 entsprach die Tarifdeckung mit 83 Prozent exakt dem westdeutschen Durchschnitt.
Das sei insofern verwunderlich, als die Branchen- und Größenstruktur der bayerischen Wirtschaft Tarifverträgen eigentlich eher zuträglich sein sollte, so die Autoren. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Betrieb tarifgebunden ist, nach ihren Berechnungen in Bayern 12 Prozent geringer als in den anderen westdeutschen Ländern. Wenn man die Branche und die Betriebsgröße herausrechnet, beträgt der negative „Bayern-Effekt“ sogar knapp 16 Prozent. Die Experten haben zudem ein weiteres Problem ausgemacht: Nur 69 Prozent der Arbeitnehmer in tarifgebundenen Firmen werden auch von einem Betriebsrat vertreten. Von allen bayerischen Beschäftigten arbeiten lediglich 37 Prozent in Betrieben mit Tarifbindung und Mitbestimmung. Weder Tarifvertrag noch Betriebsrat haben 39 Prozent.
Die weißen Flecken in der Tariflandschaft bescheren den Beschäftigten handfeste Nachteile. Wer in Bayern in einem Betrieb ohne Tarif arbeitet, verdient den Berechnungen der Forscher zufolge im Schnitt 24 Prozent weniger als Beschäftigte mit tarifgebundenem Arbeitgeber. Wenn man zusätzlich andere Faktoren wie die Betriebsgröße, die Branche oder die Qualifikationsstruktur statistisch berücksichtigt, bleibt eine Lohndifferenz von 9 Prozent. Besonders schwer fällt fehlende Tarifbindung im unteren Bereich der Lohnverteilung ins Gewicht: Am Rande des unteren Viertels beträgt die Differenz 11 Prozent, in der Mitte der Verteilung 10 Prozent, beim oberen Viertel 8 Prozent.
Auch mit Blick auf die Arbeitszeit stehen Beschäftigte ohne Tarif schlechter da: Sie arbeiten in Bayern pro Woche eine Stunde und 15 Minuten länger. Auch wenn Strukturunterschiede wie Branchenzugehörigkeit oder Qualifikation herausgerechnet werden, beträgt der Unterschied noch eine Stunde.
Beschäftigte ohne Tarifvertrag müssen auch dann Nachteile in Kauf nehmen, wenn ihr Arbeitgeber sich an einem Branchentarif orientiert, was bei 23 Prozent der bayerischen Arbeitnehmer der Fall ist. Bei der Bezahlung bringt die unverbindliche Orientierung an einem Tarifvertrag den Beschäftigten keine messbaren Vorteile, lediglich bei den Arbeitszeiten stehen sie etwas besser da als die Kollegen, deren Betriebe weder tarifgebunden sind noch einen Tarifvertrag zur Orientierung nutzen. Im Vergleich zu den Tarifbeschäftigten schneiden sie aber signifikant schlechter ab.
Um die Tarifbindung wieder zu stärken, empfehlen die WSI-Forscher, die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen zu erleichtern. Ein unnötiges Hindernis sei in diesem Zusammenhang unter anderem die Vetoposition der Arbeitgeber im Tarifausschuss. Zudem gelte es, Tarifstandards bei öffentlichen Aufträgen und Zuwendungen durchzusetzen. Zurzeit sei Bayern neben Sachsen das einzige Bundesland ohne eigenes Tariftreuegesetz. Darüber hinaus sehen die Wissenschaftler die Arbeitgeberverbände in der Pflicht, die Legitimation von Tarifflucht im Rahmen von OT-Mitgliedschaften zu beenden.
Thorsten Schulten, Malte Lübker, Reinhard Bispinck: Tarifverträge und Tarifflucht in Bayern (pdf), WSI-Study Nr. 13, Juni