Quelle: HBS
Böckler ImpulsTarifpolitik: Wenn der Partner verloren geht
Das Tarifnetz ist in den vergangenen 20 Jahren löchriger geworden. Das liegt nicht nur an einem geringeren Organisationsgrad der Arbeitnehmer, sondern auch an Erosionserscheinungen auf der Arbeitgeberseite.
Zum Vertragsschluss braucht es immer zwei. Wenn bestehende Unternehmen aus dem Arbeitgeberverband austreten, in die so genannte OT-Mitgliedschaft (OT = ohne Tarif) wechseln oder neue Unternehmen gar nicht erst eintreten, fehlt Arbeitnehmerorganisationen der Ansprechpartner. Mehrere Wissenschaftler haben in der aktuellen Ausgabe der WSI-Mitteilungen Fakten zusammengetragen und die Auflösung traditioneller Strukturen untersucht.
WSI-Forscher Martin Behrens unterscheidet zwischen einer äußeren und einer inneren Erosion der Arbeitgeberverbände. Mit äußerer Erosion ist gemeint, dass die Verbände Mitglieder verlieren. Beispielsweise büßte Gesamtmetall allein zwischen 1993 und 1996 über 20 Prozent seiner Mitgliedsunternehmen ein. Doch nicht nur Verbandsaustritte schwächen die Interessenvertretungen der Arbeitgeber. Längerfristig wirkt es sich auch aus, wenn durch natürliche Fluktuation ausgeschiedene Firmen nicht durch neue ersetzt werden können. Im Übrigen sind es nicht nur wirtschaftlich schwache Unternehmen, die den Verbänden den Rücken kehren, hat Behrens beobachtet. Es handelt sich also keineswegs um ein Phänomen, das vor allem angeschlagene Firmen betrifft, die sich Tariflöhne nicht leisten können.
Dazu kommt die innere Erosion der Verbände, die um die Jahrtausendwende eingesetzt hat. Unternehmen bleiben Verbandsmitglieder, scheiden aber aus der Tarifbindung aus. Behrens zufolge bietet gut die Hälfte der rund 700 Arbeitgeberverbände in Deutschland eine OT-Mitgliedschaft an. Meist ist dies die Reaktion auf vorangegangene Mitgliederverluste. Im Jahr 2010 hatten 42 Prozent der Mitgliedsunternehmen von Gesamtmetall den OT-Status. Allerdings entfallen auf diese Unternehmen nur 17 Prozent der Beschäftigten. Das heißt: Es sind eher die kleineren Unternehmen, die sich der Tarifbindung entziehen.
Im internationalen Vergleich ist Deutschland ein Sonderfall, wie Bernd Brandl von der Universität York in Großbritannien feststellt. Zwar ist das Organisationsniveau – etwa 60 Prozent der Beschäftigten arbeiten in Unternehmen, die in einem Arbeitgeberverband sind, um die 20 Prozent der Arbeitnehmer in einer Gewerkschaft – nichts Besonderes. Aber der Rückgang auf der Arbeitgeberseite ist ein deutsches Phänomen. Als eine Ursache betrachtet der Wissenschaftler die Strategie der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, auf die Dezentralisierung von Tarifverhandlungen zu drängen. „Somit entzieht sich der Verband sukzessive seine Existenzgrundlage, was sich in einem Rückgang an Mitgliedern manifestiert“, so Brandl.
Nicht nur ihre tarifpolitische Funktion haben die Arbeitgeberverbände teilweise eingebüßt. Auch auf einem anderen Feld, nämlich beim politischen Lobbying, setzen zumindest größere Unternehmen heute auf eigene Zugänge, anstatt sich auf die Arbeit des Verbands zu verlassen, schreibt Rudolf Speth von der Universität Kassel. Der Experte für politische Kommunikation erklärt dies unter anderem mit der Auflösung traditioneller Netzwerke und der Globalisierung: Die Kontakte zwischen Parteien und Verbänden sind nicht mehr so eng wie in früheren Jahrzehnten und eine neue Managergeneration setzt andere Prioritäten. Nicht zuletzt, weil die Unternehmen auf internationalen Märkten agieren und ihnen die national organisierten Verbände weniger hilfreich erscheinen.
Allerdings wäre es zu einfach, alle Arbeitgeberorganisationen in einen Topf zu werfen. Sie unterscheiden sich von Branche zu Branche, was Auswirkungen auf die Beziehungen zu den Gewerkschaften hat. Entsprechend existieren nach den Analysen von Markus Helfen, Forscher an der Freien Universität Berlin, unterschiedliche Typen von Sozialpartnerschaft. So arbeiten Arbeitgeber und Gewerkschaften in der chemischen Industrie eng und meist geräuschlos zusammen, hier ragten „die sozialpartnerschaftlichen Arrangements durch Tiefe und Breite besonders“ heraus; während die Auseinandersetzungen in der Metallindustrie häufig konfrontativer sind. Helfen spricht hier von einer „Konfliktpartnerschaft“. Als brüchig oder nicht existent erweist sich die Sozialpartnerschaft dagegen in neueren Branchen wie den Industriedienstleistungen oder der Leiharbeit. Hier fehlt es Gewerkschaften häufig an einem Gegenüber, das vertrauensvolle Kooperation ermöglicht, konstatiert der Forscher.
Wie lassen sich sozialpartnerschaftliche Institutionen wieder beleben, vor allem der auf Verbandsebene ausgehandelte Flächentarif in verwaisten Sektoren? Der Göttinger Arbeitsrechtler Manfred Walser rät dazu, das Tarifsystem zunächst auf dem Weg der Gesetzgebung zu stabilisieren. So ließen sich die Hürden senken, die heute einer Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen entgegenstehen. Zudem sei es sinnvoll, Ausweichmöglichkeiten wie Leiharbeit und Werkverträge zu begrenzen.
WSI-Mitteilungen 7/2013: Arbeitgeberverbände in Erosion?