Quelle: HBS
Böckler ImpulsArbeitskämpfe: Weniger Streiks 2010
2010 haben erneut weniger Beschäftigte gestreikt als im Vorjahr. Das Arbeitskampfvolumen ist in der Wirtschaftskrise auf den niedrigsten Stand seit 2004 gesunken.
Etwa 120.000 Beschäftigte haben sich 2010 an Streiks und Warnstreiks beteiligt. 2009 waren es noch rund 400.000. Auch die Zahl der Ausfalltage durch Streiks war 2010 sehr niedrig. WSI-Arbeitskampfexperte Heiner Dribbusch geht von etwa 173.000 Tagen aus – nach knapp 400.000 Tagen im Jahr zuvor. Das ist nach der WSI-Arbeitskampfbilanz der niedrigste Wert seit 2004. Die akute Wirtschaftskrise und ihre Bewältigung lasse sich auch an der Arbeitskampfstatistik ablesen: „Ein wesentlicher Grund liegt darin, dass 2010 in der Metall- und Elektroindustrie ohne Arbeitskampf eine Verhandlungslösung erzielt wurde und es im Dienstleistungssektor deutlich weniger betriebliche Arbeitskämpfe gab als in den Vorjahren“, sagt Dribbusch.
Die WSI-Schätzung bestätigt vom Trend her die offizielle Statistik der Bundesagentur für Arbeit, weicht jedoch bei den Werten erheblich nach oben ab. „Die offizielle Streikstatistik ist eine wichtige Orientierungsmarke. Aber sie leidet darunter, dass sehr viele Arbeitskämpfe nicht von den Arbeitgebern gemeldet werden. Deshalb ist sie lückenhaft“, so der Experte.
Keine Großkonflikte. Das Jahr 2010 war geprägt durch das Ausbleiben von Großkonflikten, skizziert Dribbusch die Arbeitskampfentwicklung. In der Metall- und Elektroindustrie einigten sich die Tarifparteien vor dem Hintergrund einer krisenhaften Branchensituation noch vor Auslaufen des alten Tarifvertrages. In der fast parallel laufenden Tarifrunde für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst bei Bund und Kommunen wurde zwar erst über eine Schlichtung ein Ergebnis erzielt. Doch die Warnstreiks fielen 2010 erheblich kleiner aus als in den Vorjahren. Die Stahltarifrunde fand bereits vor dem Hintergrund einer wieder sehr günstigen Branchenkonjunktur statt. Nach relativ wenigen Warnstreiks habe die IG Metall neben dem Lohn- und Gehaltsabschluss einen tarifpolitischen Durchbruch in der Frage des Equal Pay für Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter erzielt, analysiert der WSI-Forscher.
Weniger Streiks. Die Anzahl der Streiks wird von der amtlichen Statistik nicht erfasst. Doch Dribbusch geht auch hier von einem erheblichen Rückgang aus. Insbesondere im Dienstleistungsbereich, der wegen seiner zersplitterten Branchen- und Tarifstruktur zuletzt ein steigendes Konfliktpotenzial aufwies, gab es 2010 weniger Arbeitskämpfe. Als Indikator zieht der Wissenschaftler die Streikbilanz der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di heran. 2010 lagen dieser lediglich 107 Anträge auf Arbeitskampfmaßnahmen vor, gegenüber 163 im Jahr 2009. Das Konfliktmuster der Vorjahre setzte sich gleichwohl fort. Die ganz überwiegende Zahl aller Streiks wurde in Auseinandersetzungen um Firmen- oder Haustarifverträge geführt. „Diese Form von oft heftigen Arbeitskämpfen entsteht häufig, wenn Arbeitgeber versuchen, aus dem Tarifsystem auszusteigen“, so Dribbusch.
Deutschland ist im Verhältnis zu anderen Ländern seit Jahren streikarm. Ein aktueller internationaler Vergleich ist aber schwer, da die Daten vielfach fehlen. Die letzten Zahlen stammen aus dem Jahr 2008 und sind lediglich für einige Länder verfügbar. In jenem Jahr lag Deutschland beim relativen Streikvolumen weit hinter Ländern wie Kanada, Spanien oder der Türkei und deutlich hinter Großbritannien. Das relative Streikvolumen wird in arbeitskampfbedingten Ausfalltagen pro 1.000 Beschäftigten gemessen.
Mit 15 Ausfalltagen pro 1.000 Beschäftigten rangierte die Bundesrepublik nach der WSI-Schätzung 2008 auf gleichem Niveau wie die Niederlande. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass auch die offiziellen Statistiken anderer Länder teilweise große Lücken aufweisen. Legt man die niedrigeren offiziellen Zahlen der Bundesagentur zugrunde, lag Deutschland 2008 mit 3,7 Ausfalltagen sogar am untersten Ende der Streikstatistik, kurz vor der Schweiz. Für 2010 kommt das WSI auf knapp 5 Ausfalltage pro 1.000 Beschäftigte, auf Basis der BA-Daten wäre es noch nicht einmal ein Ausfalltag.
Mit Blick auf 2011 sieht das WSI bislang keine Anzeichen für Großkonflikte. Die Streikaktionen im ersten Quartal 2011 waren sowohl in puncto Beteiligte als auch in ihrer Dauer eng umrissen. Von den noch offenen Tarifrunden, so Dribbusch, berge vor allem die im Einzelhandel ein schwer einzuschätzendes Konfliktpotenzial, weil hier ver.di auf durchaus konfliktbereite Arbeitgeberverbände träfe. Ob einzelne der auch in diesem Jahr wieder zu erwartenden betrieblichen Streiks in die breite Öffentlichkeit dringen werden, bleibe abzuwarten.
Heiner Dribbusch ist Experte für Tarif- und Gewerkschaftspolitik im WSI.