Quelle: HBS
Böckler ImpulsVerteilung: Weniger Normalverdiener
Die Mittelschicht ist seit den 1990er-Jahren geschrumpft. Das ist eine Folge der auseinanderlaufenden Lohnentwicklung.
In den Nachkriegsjahrzehnten hat die Zwiebel die Pyramide abgelöst. Dieses Bild bringt zum Ausdruck, wie sich die Verteilung der Einkommen in der Bundesrepublik entwickelt hat: An die Stelle einer breiten Unterschicht trat eine starke Mittelschicht. Die Ungleichheit nahm ab. In jüngster Zeit mehren sich jedoch die Indizien für eine Rückverschiebung. Eine Untersuchung des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) zeigt, dass – gemessen an den am Markt erzielten Einkommen – 2013 nur noch 48 Prozent der Haushalte zur Mittelschicht gehörten. Das sind gut acht Prozentpunkte weniger als 20 Jahre zuvor.
Allerdings sagen die Markteinkommen noch nichts darüber aus, wie viel Geld ein Haushalt wirklich zur Verfügung hat. Theoretisch könnten Steuer- und Sozialpolitik die Folgen einer polarisierten Lohnentwicklung – mehr Niedriglöhne, mehr Spitzengehälter, weniger Normalverdienste – vollständig auffangen. Inwieweit dies geschehen ist, haben die IAQ-Forscher Gerhard Bosch und Thorsten Kalina ebenfalls untersucht. Es zeigt sich: Unter Berücksichtigung von Steuern, Abgaben und Sozialleistungen zählt ein viel größerer Anteil der Bevölkerung zur Mittelschicht, nämlich 78 Prozent. Geschrumpft ist die Mittelschicht aber auch in dieser Betrachtungsweise. Im Jahr 2000 zählten, staatliche Umverteilung eingerechnet, noch 83 Prozent dazu.
8 Prozent aller Haushalte gehören aktuell der Oberschicht an, 14 Prozent der Unterschicht. Letztere ist in besonderem Maß auf staatliche Unterstützung angewiesen. Nur knapp 40 Prozent ihrer Einkünfte sind Markteinkommen, der Rest setzt sich zu etwa gleichen Teilen aus Sozialtransfers wie Hartz IV oder Kindergeld und Zahlungen der gesetzlichen Rentenversicherung zusammen. Zugenommen hat in der unteren Einkommensgruppe vor allem die Zahl der Singles und derjenigen, die in Minijobs oder kurzer Teilzeit nur in sehr begrenztem Umfang am Arbeitsleben teilhaben, so die Wissenschaftler.
Seit Mitte der 1990er-Jahre sind die Arbeitszeiten zwar in allen Schichten zurückgegangen. Am unteren Ende ist der Verlust jedoch am größten. Hier ist Zahl der Arbeitsstunden um ein Fünftel gesunken, in der Oberschicht lediglich um drei Prozent. Entsprechend würden in der Gruppe mit den niedrigsten Einkommen fast 44 Prozent gern mehr arbeiten.
Ziel der Wirtschafts- und Sozialpolitik müsse es sein, schreiben Bosch und Kalina, die Ungleichheit der Markteinkommen zu reduzieren. Die Einführung des Mindestlohns sei ein wichtiger Schritt in diese Richtung gewesen. Hinzu kommen müssten aber Maßnahmen, die Fehlanreize korrigieren: Für Arbeitgeber sollte es unattraktiver werden, Jobs mit wenigen Wochenstunden anzubieten, von denen niemand leben kann.
Wer zur Mittelschicht gehört
Zur Mittelschicht zählen die IAQ-Forscher Haushalte, deren Einkommen zwischen 60 und 200 Prozent des mittleren Werts liegt. Zwischen 60 und 80 Prozent liegt die untere Mittelschicht, zwischen 120 und 200 die obere. Wie in der Verteilungsforschung üblich, wird dabei mit bedarfsgewichteten Einkommen gerechnet. So wird berücksichtigt, dass ein Haushalt mit vielen Personen auf höhere Einkünfte angewiesen ist als ein Single-Haushalt. Als Datenbasis dient das Sozio-oekonomische Panel, eine jährlich wiederholte Befragung von über 10.000 Haushalten.
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Gerhard Bosch, Thorsten Kalina: Die Mittelschicht in Deutschland unter Druck, IAQ-Report 4/2015