Quelle: HBS
Böckler ImpulsAltenpflege: Wege aus dem Pflegenotstand
Die Zustände in der Altenpflege sind häufig prekär. Forschende analysieren, was geschehen muss, um die Personalprobleme der Branche zu lösen und die Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Die demografische Entwicklung führt zu einem massiven Anstieg der Zahl pflegebedürftiger Menschen: Zwei von drei Männern und vier von fünf Frauen müssen im Alter gepflegt werden. Über 3,8 Millionen Menschen in Deutschland sind über den Pflegegrad 1 hinaus hilfsbedürftig. Mehr als eine Million Beschäftigte kümmert sich um diese Älteren. Hinzu kommen – geschätzt – 700 000 meist aus Osteuropa stammende sogenannte Live-Ins, die im Haushalt der zu Betreuenden arbeiten und wohnen. Damit sind in der Altenpflege mehr Menschen als in der Autoindustrie beschäftigt. Und dennoch: Das Personal reicht hinten und vorne nicht. Viele Beschäftigte reagieren auf die schlechten Arbeitsbedingungen mit der Reduzierung von Stunden oder verlassen den Beruf. In einer Schwerpunktausgabe der WSI-Mitteilungen analysieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Situation und suchen nach Auswegen aus dem Pflegenotstand. Sie zeichnen ein recht düsteres Bild vom Status quo, halten die Probleme aber nicht für unlösbar.
In der Altenpflege arbeiten vor allem Frauen, mehrheitlich in Teilzeit. Mehr als zehn Prozent der in Arbeitsmarktstatistiken erfassten Beschäftigten sind Migrantinnen oder Migranten. Der Anteil der Hilfskräfte – im Verhältnis zu den Fachkräften – ist hoch, die Bezahlung eher schlecht. Zwar sind die Entgelte in der Altenpflege in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich gestiegen. Dennoch kamen vollzeitbeschäftigte Fachkräfte 2020 im Schnitt gerade einmal auf 3174 Euro brutto, fast 500 Euro weniger als in der Krankenpflege, wo deutlich mehr Beschäftigte nach Tarifvertrag bezahlt werden.
Permanenter Notbetrieb in vielen Einrichtungen
Die Menge der zu erledigenden Aufgaben, der Zeitdruck und die emotionale Belastung der Beschäftigten sind groß. Dabei steht der permanente Notbetrieb in vielen Einrichtungen einer effizienten und für die Beschäftigten befriedigenden Arbeit im Weg. Das Arbeiten in Unterbesetzung ist mittlerweile die Regel. Für die Arbeit mit und am Menschen fehlt die Zeit, sodass der eigene Anspruch an die Arbeit regelmäßig zu kurz kommt. Gleichzeitig sehen sich die Beschäftigten oft unvereinbaren Erwartungen ausgesetzt. Das gilt gerade im Bereich der ambulanten Pflege: Während der Arbeitgeber auf Einhaltung der Zeitpläne, der vertraglich vereinbarten Aufgaben und der Dokumentationspflichten besteht, wünschen sich die Betreuten mehr Zuwendung und bitten noch um dieses oder jenes, wie eine Fallstudie für einen Wohlfahrtsverband zeigt. In anderen Fällen werden die Pflegekräfte beschimpft oder fühlen sich als preisgünstige Putzkraft missbraucht.
Relativ wenig dringt über die Situation der Live-Ins an die Öffentlichkeit. Zwar gelang es 2021 einer bulgarischen Pflegekraft mit gewerkschaftlicher Unterstützung, ihren Anspruch auf Mindestlohn vor dem Bundesarbeitsgericht durchzusetzen. Dass es um die Bedingungen in diesem arbeitsrechtlichen Graubereich weiterhin nicht gut bestellt ist, gilt unter Forschenden aber als sicher. Bei der Einhaltung von Arbeitszeiten und Mindestlohn dürften die Defizite erheblich sein.
Die Tarifautonomie fristet ein Schattendasein
Auch der Arbeitsalltag, in dem sie sich häufig als Einzelkämpferinnen von Kompromiss zu Kompromiss hangeln, das Verharren im „Aufopferungsmodus“ und ökonomischer Druck erschweren es Beschäftigten, ihre Arbeitsbedingungen durch Selbstorganisation zu verbessern – und damit die Branche auch attraktiv für weitere Arbeitskräfte zu machen. Lediglich zwölf Prozent sind gewerkschaftlich organisiert. Dieser „mangelnden Selbstorganisation“ der Beschäftigten steht nach einer Analyse von Wolfgang Schroeder, Lukas Kiepe und Saara Inkinen ein Unwille, sich in Arbeitgeberverbänden zu organisieren, auf Seiten der Arbeitgeber gegenüber. Beides zusammen führe dazu, dass die Tarifautonomie in der Altenpflege ein Schattendasein fristet. Die Forschenden sprechen von einer „defekten Interessenvermittlung“. Die im Vergleich zum Krankenhaussektor recht kleinteilige Betriebsstruktur auf der Arbeitgeberseite, die verschiedenen privaten und kirchlichen Träger, Wohlfahrtsverbände und deren Interessengegensätze haben einen bundesweiten Flächentarifvertrag für die Altenpflege bisher verhindert. Stattdessen sah sich der Staat gezwungen, mit der Einführung des Pflegemindestlohns und dem Pflegelöhneverbesserungsgesetz einzugreifen. Zuletzt kam die 2021 verabschiedete sogenannte Tariftreueregelung hinzu. Allerdings können Arbeitgeber, statt wirklich nach Tarif zu bezahlen, auch nur das „durchschnittliche Entgeltniveau“ in ihrer Region zugrunde legen.
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Eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie weist nach, dass sich durch die Rückkehr von Aussteigerinnen und Aussteigern sowie die Aufstockung von Teilzeit mindestens 300 000 zusätzliche Pflegekräfte gewinnen ließen. Voraussetzung: Die Arbeitsbedingungen müssen sich deutlich verbessern, insbesondere die Personalschlüssel.
Die Autorinnen der Studie „Wir pflegen wieder, wenn ...“ sprechen im Podcast über ihre Erkenntnisse.
Der Staat habe Voraussetzungen für höhere Löhne in der Altenpflege geschaffen und „somit die Arena renoviert und den Anpfiff ausgeführt“, schreiben die Forschenden. Nun müssten „die Tarifvertragsparteien endlich mit dem Spielen beginnen“. Doch nach wie vor fehlt es an Anreizen für die Träger, einen Tarifvertrag abzuschließen. Dieses Defizit müsse ausgeglichen werden.
Berufliche Perspektiven schaffen
Den Live-Ins in Privathaushalten dürften neue Tarifabschlüsse ohnehin erst einmal wenig nützen. Zumal nur rund zehn Prozent von ihnen über ein reguläres Beschäftigungsverhältnis verfügen – im Gegensatz zu anderen Ländern wie Italien, wo immerhin 42 Prozent sozialversicherungspflichtig angestellt sind. Dort existiert ein Tarifvertrag für Hausangestellte und irreguläre Beschäftigung kann empfindliche Strafen nach sich ziehen. Viele Expertinnen und Experten stellen das Live-In-Modell generell infrage. Schließlich ist die Arbeit in einem fremden Haushalt im Ausland auch für die Familien der Betreuungskräfte häufig sehr problematisch.
Auch Pflegefachkräfte werden massiv im Ausland rekrutiert – was nach Auffassung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kritisch ist: Die Abgeworbenen fehlen in ihren Heimatländern, wo ebenfalls Bedarf an möglichst gut ausgebildeten Pflegekräften besteht. Einen anderen Weg geht Schweden, wo vor allem darauf gesetzt wird, bereits im Land lebende Migrantinnen und Migranten zu qualifizieren.
Ein Ausbau der Ausbildungsstrukturen sei ohnehin notwendig, sagen Gesundheitsfachleute. Interessierten müsse dazu aber auch eine berufliche Weiterentwicklungsperspektive geboten werden: Hinreichende Zielwerte bei der Personalbemessung sollten bereits heute festgeschrieben werden. Denn fürs Hamsterrad möchte sich niemand qualifizieren lassen. Zudem sei es wichtig, dass Beschäftigte und ihre Interessenvertretungen partizipativ an der Entwicklung der Organisationsstrukturen im Altenpflegesektor mitwirken könnten.
WSI-Mitteilungen 5/2002, Oktober 2022