Quelle: HBS
Böckler ImpulsArbeitswelt: Was in der Altenpflege schief läuft
Ähnlich wie in Deutschland ist bei den Arbeitsbedingungen von Altenpflegekräften in Japan und Schweden noch viel Luft nach oben. Manches funktioniert dort allerdings besser.
Die Altenpflege wird angesichts des demografischen Wandels in den Industriestaaten immer wichtiger. Ein BestPractice-Beispiel, das gute Leistungen für Pflegebedürftige, gute Arbeitsbedingungen für Pflegende und eine gesicherte Finanzierung zusammenbringt, gibt es bislang in keinem Land. Interessante Unterschiede dagegen schon. Das zeigt eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie der Sozialwissenschaftlerin Hildegard Theobald von der Universität Vechta, die die Situation in Deutschland, Schweden und Japan vergleicht. Zeitdruck, Erschöpfung und prekäre Arbeitsverhältnisse sind demnach unter den Pflegekräften in allen drei Ländern verbreitet. Schweden tut sich immerhin durch eine umfassende Qualifizierungsstrategie hervor. In Japan ist der Männeranteil in der stationären Versorgung vergleichsweise hoch. Deutschland verfügt im Ländervergleich über ein relativ hohes Qualifikationsniveau in der ambulanten Pflege, während die stationären Einrichtungen in dieser Hinsicht schlecht dastehen. Außerdem haben es Beschäftigte mit Migrationshintergrund hierzulande besonders schwer.
Ein gemeinsames Merkmal der Entwicklung in den drei Ländern ist laut Theobald die Etablierung eines universellen Pflegesystems, das das Pflegerisiko für die Gesamtbevölkerung sozial absichert. Die Schweden waren hier seit den 1960er-Jahren Vorreiter, Deutschland und Japan zogen in den 1990er-Jahren nach. Als eine weitere Gemeinsamkeit nennt die Autorin die „marktorientierte Restrukturierung“ der Altenpflege: In den vergangenen beiden Jahrzehnten wurde Konkurrenz zwischen Anbietern gefördert, Managementtechniken der Privatwirtschaft wurden übernommen, die Finanzierung wurde umgestellt auf festgelegte Preise für klar definierte Dienstleistungen – und zunehmend restriktiv.
Wie sich vor diesem Hintergrund die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte in Deutschland, Japan und Schweden darstellen, hat Theobald anhand von Befragungsdaten aus den Jahren 2005 bis 2012 erfasst, die sich auf insgesamt etwa 2500 Beschäftigte beziehen. Zusätzlich hat sie in ihrer Untersuchung Ergebnisse der amtlichen Statistik berücksichtigt.
Der Auswertung zufolge ist atypische Beschäftigung länderübergreifend weit verbreitet: Der Anteil der Teilzeitjobs in der ambulanten Pflege liegt in Japan und Schweden bei etwa 60 Prozent, in Deutschland bei über 70 Prozent. Prekäre Beschäftigungsformen – worunter die Forscherin Minijobs oder stundenweise Beschäftigung versteht – machen im ambulanten Sektor in Deutschland unabhängig vom Träger etwa ein Fünftel aus. Vor allem Helferinnen und Ungelernte sind betroffen. In Schweden schwankt der Anteil zwischen 15 Prozent bei den öffentlichen Dienstleistern und 34 Prozent bei den privaten Konkurrenten. In der stationären Pflege gibt es etwas mehr Normalarbeit: Zwischen 40 und 50 Prozent der Beschäftigten in Deutschland und Schweden arbeiten in Vollzeit. In Japan sind es 93 Prozent – was laut Theobald auch daran liegen dürfte, dass in diesem Bereich bis heute nur öffentliche und gemeinnützige Anbieter zugelassen sind.
Was die Qualifikation angeht, sei in allen Ländern eine zwei- bis dreijährige Berufsausbildung die Regel, schreibt die Wissenschaftlerin. Zusätzlich gebe es jeweils ausgebildete Pflegehelfer sowie ungelernte Kräfte. Im ambulanten Sektor ist der Studie zufolge das Qualifikationsniveau in Deutschland am höchsten, wo 53 Prozent der Beschäftigten eine dreijährige Ausbildung als Kranken- oder Altenpflegefachkraft absolviert haben. Im stationären Bereich liegt Deutschland dagegen mit einem Anteil von 33 Prozent hinten. Ein Viertel der dort Beschäftigten empfindet die eigene Ausbildung als inadäquat. Wesentlich günstiger ist die Situation in Schweden, wo in den Pflegeheimen zu zwei Dritteln Fachkräfte arbeiten und sich nur elf Prozent für unzureichend qualifiziert halten. Die japanische Altenpflege zeichnet sich nach Theobalds Einschätzung generell durch eine „begrenzte Professionalisierung“ aus. Im ambulanten Bereich beklagen 26 Prozent der Beschäftigten Ausbildungsdefizite, im stationären Bereich 44 Prozent.
Belastend ist die Pflege alter Menschen in allen drei Ländern: Von regelmäßigem Zeitdruck berichten 54 Prozent der ambulanten Pflegekräfte in Deutschland, 35 Prozent in Japan und 37 Prozent in Schweden. Wöchentlich Überstunden fallen bei 52 Prozent der Deutschen, 28 Prozent der Japaner und 13 Prozent der Schweden an. Noch schlimmer sieht es im stationären Bereich aus: Zeitdruck ist hier bei 73 Prozent der Deutschen, 53 Prozent der Japaner und 40 Prozent der Schweden an der Tagesordnung. Als Erklärung verweist die Forscherin auf festgelegte Aufgabenkomplexe in engen Zeitkorridoren und dünne Personaldecken.
Auch körperliche Belastungen sind international ein Problem: Täglich schwere Dinge oder Personen bewegen müssen im ambulanten Sektor in Deutschland und Schweden 40 bis 50 Prozent der Beschäftigten, im stationären Sektor 60 bis 70 Prozent. In Japan sind es in der ambulanten Pflege, die dort vor allem Haushaltstätigkeiten umfasst, 18 Prozent sowie 81 Prozent in den Heimen. Fast immer körperlich erschöpft sind nach einem Arbeitstag in der ambulanten Pflege 46 Prozent der deutschen Befragten sowie etwa 60 Prozent der Schweden und Japaner. Von den Beschäftigten in Pflegeheimen haben in Deutschland und Schweden 70 Prozent mit körperlicher Erschöpfung zu kämpfen, in Japan mehr als 80 Prozent.
Bei den Arbeitsinhalten dominiert länderübergreifend die Grundpflege. Haushaltstätigkeiten spielen in der ambulanten Versorgung in Japan und Schweden eine größere Rolle als in Deutschland, wo die Pflegeversicherung solche Dienstleistungen nur begrenzt abdeckt. Behandlungspflege wie das Verabreichen von Injektionen gehört dagegen in Deutschland bei 62 Prozent der ambulanten Pflegekräfte zum Aufgabenspektrum, in Schweden bei 36 Prozent, in Japan gar nicht. Dort gibt es spezialisierte medizinische Dienstleister für solche Tätigkeiten. Im stationären Bereich sind die Unterschiede geringer. Die Arbeitsautonomie ist in den schwedischen Pflegeheimen und in der ambulanten Pflege in Deutschland am stärksten ausgeprägt, wo jeweils 40 bis 50 Prozent der Beschäftigten Gestaltungsspielräume haben. In Japan sind es in beiden Bereichen nur 15 bis 20 Prozent. Auch der Anteil derjenigen, die ihre Arbeit als interessant oder bedeutsam wahrnehmen, ist in Japan am geringsten.
Wenn es darum geht, die Entwicklung der Arbeitsbedingungen zu bewerten, fällt die Einschätzung im ambulanten Bereich hierzulande vergleichsweise positiv aus. Im stationären Bereich in Deutschland und in beiden Sektoren in Schweden sehen 40 bis 50 Prozent der Befragten hauptsächlich eine Verschlechterung. In Japan können die meisten keine Veränderung erkennen. Die Tendenz, den Job zu wechseln, ist überall stark ausgeprägt: Der Anteil der Wechselwilligen reicht von 30 Prozent in der ambulanten Pflege in Deutschland bis zu 56 Prozent in den japanischen Pflegeheimen.
Beschäftigte mit Migrationshintergrund spielen in Japan mit einem Anteil von 0,5 Prozent kaum eine Rolle, in Deutschland und Schweden beträgt der Anteil jeweils 14 Prozent im stationären und 11 Prozent im ambulanten Sektor. Dabei gibt es in beiden Ländern keine Hinweise auf Benachteiligungen bei der Qualifikation und den Arbeitszeitarrangements. Bei den sonstigen Arbeitsbedingungen sind in Deutschland dagegen deutliche Unterschiede erkennbar: Unbezahlte Überstunden machen 41 Prozent der Migranten und 18 Prozent der anderen Beschäftigten. Noch schlechter sieht es bei den Ungelernten aus. Gestaltungsspielräume haben 23 Prozent der Pflegekräfte mit Migrationshintergrund und 35 Prozent der einheimischen Kollegen. Häufig körperlich erschöpft sind 88 im Vergleich zu 64 Prozent. Zudem erfahren Migranten weniger Wertschätzung von den Familien und Vorgesetzten. Von ausländerfeindlichen Kommentaren sind 15 Prozent betroffen.
Der Frauenanteil in der Altenpflege beträgt fast überall mehr als 90 Prozent. Die einzige Ausnahme stellt der stationäre Bereich in Japan dar, wo 35 Prozent der Beschäftigten junge Männer sind. Die Arbeitsbedingungen dort sind insofern typisch „männlich“, als es fast nur Vollzeitjobs gibt. Auch das Qualifikationsniveau ist höher als im ambulanten Bereich. Das Gleiche gilt allerdings auch für die körperlichen und seelischen Belastungen.
Mit Blick auf die deutsche Altenpflege hat Theobald aus ihrer Analyse mehrere Handlungsempfehlungen abgeleitet. Zum einen plädiert sie dafür, dass ähnlich wie in Schweden grundsätzlich alle Pflegkräfte eine Ausbildung erhalten sollten. Berufsbegleitende Angebote wären dabei essenziell. Um zumindest den hohen Anteil an zeitlich wenig umfangreichen bis hin zu geringfügigen Teilzeittätigkeiten zu verringern, seien familienfreundliche, flexible Vollzeit- oder umfangreiche Teilzeitarrangements und eine bessere Kinderbetreuung notwendig. Um den Zeitdruck zu lindern, müssten vor allem Personalengpässe beseitigt werden. Die deutliche Benachteiligung von insbesondere ungelernten Migranten im Arbeitsalltag mache es erforderlich, dass Arbeitgeber und Interessenvertreter auch auf Betriebsebene aktiv werden. Dass der Pflegeberuf auch für Männer attraktiv werden kann, wenn sozial abgesicherte Vollzeit die Norm ist, zeige der stationäre Sektor in Japan. Allerdings werde an diesem Beispiel auch deutlich, dass Normalarbeit allein kein Garant für hohe Arbeitszufriedenheit ist. Zusätzlich brauche es unter anderem eine adäquate Ausbildung, ausreichend Personal und Gestaltungsspielräume für die Beschäftigten.
Hildegard Theobald (unter Mitarbeit von Holger Andreas Leidig): Pflegearbeit in Deutschland, Japan und Schweden (pdf), Study der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 383, August 2018