Quelle: HBS
Böckler ImpulsVerteilung: Was gegen Armut hilft
Die Zunahme der Armut ließe sich stoppen. Dazu sind Maßnahmen auf verschiedenen politischen Ebenen nötig.
Seit 2010 sind die Ungleichheit der Einkommen in Deutschland und die Armut deutlich gestiegen. Das hat für viele Menschen drastische Folgen in ihrem Alltag: Schon 2021, also vor dem Beginn der Inflationswelle, hatten mehr als 40 Prozent der Armen und über 20 Prozent der Menschen in der Gruppe mit prekären Einkommen etwas oberhalb der Armutsgrenze keinerlei Rücklagen, um kurzfristige finanzielle Notlagen zu überbrücken. Rund zehn Prozent der Armen waren zudem finanziell nicht in der Lage, abgetragene Kleidung zu ersetzen. Knapp 17 Prozent konnten sich Freizeitaktivitäten wie einen Kinobesuch im Monat oder den Besuch einer Sportveranstaltung nicht leisten. Knapp 14 Prozent fehlte das Geld, um wenigstens einmal im Monat Freunde zum Essen einzuladen. Das geht aus dem jüngsten Verteilungsbericht des WSI hervor, den Dorothee Spannagel und Jan Brülle verfasst haben.
Die Analysen der Forschenden zeigen zudem, dass Menschen mit geringen Einkommen öfter mit dem politischen System hadern als andere. Während in der oberen Mittelschicht immerhin 52 Prozent der Menschen die Einschätzung äußern, sie hätten die Möglichkeit, auf die eigenen Anliegen aufmerksam zu machen, sind es bei den Armen nur 44 Prozent. Der Zuschreibung, „die regierenden Parteien betrügen das Volk“ stimmen mehr als ein Drittel der Menschen in Armut und mit prekären Einkommen zu, während das in der oberen Mitte etwas mehr als ein Viertel so sieht. Von den Armen erklären knapp 20 Prozent, bei der nächsten Bundestagswahl nicht wählen gehen zu wollen. Mit steigendem Einkommen sinkt der Anteil – bis auf knapp elf Prozent in der oberen Einkommensmitte. Arme entwickelten eine erhebliche – und bedenkliche – Distanz zur Demokratie, warnen Spannagel und Brülle.
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Sie nennen Ansatzpunkte zur Bekämpfung von Armut, Marginalisierung und Verunsicherung, die sich in den vergangenen Jahren bis in die Mittelschicht ausgebreitet hat.
Wirksame Grundsicherung: Die Regelsätze der sozialen Grundsicherung müssen nach Analyse der Forschenden so weit angehoben werden, dass sie „ein Mindestmaß an Teilhabe tatsächlich ermöglichen“. Zudem gelte es, die nach wie vor hohe Quote derer zu reduzieren, die einen Anspruch auf eine Grundsicherungsleitung nicht geltend machen, „etwa aus Unwissenheit oder Angst vor Stigmatisierung“.
Qualifizierung und Vereinbarkeit: Parallel könnten Qualifizierungsmaßnahmen für Menschen am Rande des Arbeitsmarktes die Teilhabemöglichkeiten nachhaltig verbessern, so Brülle und Spannagel. Ebenso wichtig sei die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, um gerade jenen Menschen, meist Frauen, die sich verstärkt um Kinderbetreuung kümmern, auch eine Vollzeiterwerbstätigkeit zu ermöglichen. „Eine volle, sichere, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist in unserer Gesellschaft einer der Schlüssel für eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe. Menschen mit soliden, nachhaltig abgesicherten Teilhabemöglichkeiten haben auch eine höhere politische Teilhabe“, betonen die Forschenden.
Sicherheit durch Sozialversicherung: Gesellschaftliche Teilhabe für Menschen in der unteren Mitte der Gesellschaft könne besonders durch Sozialversicherungssysteme gestärkt werden, „die eine angemessene Balance zwischen solidarischem Ausgleich und Sicherung des individuellen Lebensstandards finden“, schreiben die Fachleute. Hier gehe es etwa um ein stabiles Rentenniveau in Kombination mit einer auskömmlichen Grundrente.
Bessere Infrastruktur: Zusätzlich halten es die Forschenden für zentral, soziale Infrastruktur und öffentliche Daseinsvorsorge zu stärken. Dazu zählen sie unter anderem ein gutes Quartiersmanagement, eine bessere Ausstattung des Bildungssystems, eine leistungsfähige Gesundheitsversorgung und einen gut ausgebauten ÖPNV. Solche Maßnahmen kämen allen zugute. Besonders wichtig seien sie aber für die Teilhabe der unteren Einkommensgruppen. Denn „Menschen mit sehr niedrigen finanziellen Ressourcen können Defizite in der öffentlichen Infrastruktur nicht durch eigene Ressourcen kompensieren und eben nicht auf oftmals teure private Alternativen ausweichen“.
Zur Finanzierung dringend notwendiger Investitionen beitragen würde „neben einer Reform der Schuldenbremse auch eine wirksamere Besteuerung sehr großer Vermögen, die auch der gewachsenen wirtschaftlichen Ungleichheit entgegenwirken kann“, sagt Bettina Kohlrausch, die wissenschaftliche Direktorin des WSI.
Dorothee Spannagel, Jan Brülle: Ungleiche Teilhabe: Marginalisierte Arme – verunsicherte Mitte, WSI-Verteilungsbericht 2024, WSI Report Nr. 98, November 2024