Quelle: HBS
Böckler ImpulsMindestlohn: Warnung vor Arbeitsplatzverlusten auf wackeligem Fundament
Mindestlöhne müssen keine Jobs kosten. Gegenteilige Behauptungen sind weder theoretisch noch empirisch abgesichert.
Die Argumentation ist eingängig, aber zu einfach: Gering qualifizierte Mitarbeiter würden nur einen bescheidenen Beitrag zur Wertschöpfung leisten und könnten deshalb nur gering entlohnt werden. Andernfalls wären die Arbeitgeber gezwungen, sie zu entlassen. Roman George von der Universität Marburg zeigt, welche umstrittenen Annahmen hinter dieser Theorie stecken. Nach Georges Analyse lässt sich die These vom Mindestlohn als Jobvernichter auch empirisch nicht belegen.
Niedriger Lohn ist keine Folge geringer Leistung. Was in der Welt ökonomischer Modelle selbstverständlich ist, scheitert an der Realität: "Es ist schlichtweg unmöglich, bei einer arbeitsteiligen Produktion den individuellen Beitrag zur Gesamtproduktion zu bestimmen", stellt George fest. Sicher sei nur, dass "alle an der Wertschöpfung Beteiligten zum Gesamtergebnis beitragen". Beispielsweise sei der Betrieb eines Luxushotels ohne professionelle Reinigung der Zimmer undenkbar - dennoch werden in diesem Bereich fast ausschließlich Niedriglöhne gezahlt. Unterschiedliche Einkommen im Unternehmen ließen sich nicht objektiv mit unterschiedlichen Anteilen am wirtschaftlichen Erfolg begründen. Vielmehr spielen "historisch und gesellschaftlich bedingte Unterschiede in der Bewertung verschiedener Tätigkeiten und Berufsbilder" eine wichtige Rolle, so George.
Auch verschiedene formale Qualifikationen könnten die Verdienstunterschiede nicht hinreichend erklären. So beziehen keineswegs nur Geringqualifizierte Niedriglöhne: Nach einer Studie des Instituts Arbeit und Qualifikation haben zwei Drittel eine Berufsausbildung oder sogar einen Studienabschluss.
Niedrigentgelte seien in Deutschland nicht in erster Linie auf eine geringe Produktivität der jeweiligen Beschäftigten zurückzuführen, so George, sondern auf "ihre geringe Verhandlungsmacht". Die schlechte Bezahlung vieler Arbeitnehmer ist demnach weder Ausdruck ihrer geringen Fähigkeiten noch eine Konsequenz ökonomischer Gesetzmäßigkeiten - sie spiegelt vor allem ihre schwache Position gegenüber dem Arbeitgeber wider.
Fragwürdige Berechnungen. Berechnungen der angeblich drohenden Jobverluste durch die Einführung von Mindestlöhnen beruhen George zufolge oft auf zweifelhaften Annahmen. So geht beispielsweise das ifo-Institut davon aus, dass eine Lohnerhöhung um einen Prozentpunkt die Beschäftigung um einen dreiviertel Prozentpunkt senkt. Die unterstellte Beziehung zwischen Lohn und Beschäftigung sei jedoch willkürlich gewählt und zudem undifferenziert, erläutert George. Seriöserweise müssten mindestens die Zusammenhänge für unterschiedliche Beschäftigten- und Lohngruppen einzeln ermittelt werden. In einigen Arbeitsmarktsegmenten könne der erhöhte Lohn auch zu einer geringeren Fluktuation und zu einer höheren Produktivität führen - so dass sogar positive Beschäftigungseffekte denkbar seien. Zudem wären auch gesamtwirtschaftliche Beschäftigungszuwächse infolge der höheren Kaufkraft der Geringverdiener gegenzurechnen. Angesichts der theoretischen Kontroversen liege es nahe, sich die Entwicklung in den Ländern anzuschauen, die einen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt haben.
Frankreich - kein abschreckendes Beispiel. Während laut George auch konservative Ökonomen in den letzten Jahren anerkennen mussten, dass der britische Mindestlohn seit seiner Einführung 1999 keine Beschäftigungsverluste verursacht hat, gilt der französische Mindestlohn einigen weiterhin als Jobkiller. So sieht es beispielsweise der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. George verweist dagegen auf Berechnungen der OECD, nach denen negative Beschäftigungseffekte bei Erwachsenen gar nicht und bei Jugendlichen nur in sehr geringem Ausmaß festzustellen sind. Der Wissenschaftler nennt zudem eine vergleichsweise einfache Möglichkeit, um die Wirkungen des französischen Mindestlohns zu überprüfen: Sollten die mit neoklassischen Arbeitsmarktmodellen rechnenden Ökonomen recht haben, müssten sich Mindestlohnerhöhungen unmittelbar oder mit einer geringen Verzögerung in höheren Arbeitslosenzahlen niederschlagen. Davon ist in Frankreich jedoch nichts zu sehen.
Roman George: Mindestlöhne und Beschäftigung, in: WSI-Mitteilungen 9/2008
Roman George: Gesetzlicher Mindestlohn. Was kann Deutschland von den Nachbarn lernen? Die Erfahrungen mit gesetzlichen Mindestlöhnen in Frankreich und Großbritannien, Marburg 2007