Quelle: HBS
Böckler ImpulsVerteilung: Wachsende Abstiegsängste
Einkommensungleichheit und Armut haben seit 2010 deutlich zugenommen. Sorgen um den Lebensstandard reichen bis in die Mittelschicht hinein.
Die Armutsquote hat einen Höchststand erreicht. Zudem sind Arme während der 2010er-Jahre gegenüber anderen Einkommensgruppen wirtschaftlich noch weiter zurückgefallen. Von der insgesamt positiven Wirtschafts- und Einkommensentwicklung im vergangenen Jahrzehnt haben sie nur vergleichsweise wenig abbekommen. Coronakrise und der zurückliegende Inflationsschub haben die Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage bei vielen Menschen noch einmal deutlich verschärft – nicht nur unter Ärmeren, sondern bis weit in die Mittelschicht hinein: Deutlich mehr als die Hälfte der Menschen in der unteren Einkommenshälfte, aber auch knapp 47 Prozent in der oberen Mittelschicht fürchteten im vergangenen Jahr, ihren Lebensstandard zukünftig nicht mehr halten zu können. Zu diesen Ergebnissen kommt der Verteilungsbericht des WSI.
Materielle Einschränkungen und Zukunftssorgen gehen vor allem bei ärmeren Menschen mit einer Distanzierung von staatlichen und politischen Institutionen einher, wie die Studie zeigt. Weniger als die Hälfte der Armen und der Menschen mit prekären Einkommen findet, dass die Demokratie in Deutschland im Großen und Ganzen gut funktioniert. Sie sehen für sich auch keine Möglichkeit, auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Rund ein Fünftel vertraut dem Rechtssystem allenfalls in geringem Maße.
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„Wir sehen in den Daten, dass Deutschland in einer Teilhabekrise steckt, die sich in den vergangenen Jahren verschärft hat. Diese Krise hat eine materielle Seite und eine stärker emotional-subjektive“, erklären Dorothee Spannagel und Jan Brülle vom WSI, die die Studie verfasst haben. „Die materielle Seite zeigt sich am stärksten bei den Menschen in Armut. Für sie stehen unmittelbare materielle Mangellagen im Vordergrund, und ein Teil von ihnen wendet sich relativ deutlich vom politischen System ab. Die Gruppe der Armen ist nicht nur seit 2010 größer geworden, sie ist zudem im Verhältnis zur gesellschaftlichen Mitte noch ärmer geworden.“
„Es ist entscheidend, das Teilhabeversprechen glaubhaft zu erneuern, das konstitutiv ist für eine demokratische, soziale Marktwirtschaft“, sagt Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI.
„Dabei muss die Politik das Rad nicht neu erfinden. Sie sollte vielmehr über Jahrzehnte bewährte Institutionen wieder stärken, die leider erodiert sind. Dazu zählen Tarifverträge, eine auskömmliche gesetzliche Rente und eine leistungsfähige öffentliche Infrastruktur, von funktionierenden Verkehrswegen und modernen Energienetzen bis zum Bildungs- und dem Gesundheitssystem.“
In ihrem Verteilungsbericht werten Spannagel und Brülle die jüngsten Daten aus zwei repräsentativen Befragungen aus: Erstens aus dem sozio-oekonomischen-Panel (SOEP), für das jedes Jahr rund 13 000 Haushalte interviewt werden. Zweitens stützen sich die Forschenden auf die Lebenslagenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung. Dafür wurden in zwei Wellen 2020 und 2023 jeweils mehr als 4000 Personen befragt.
Im Jahr 2021 lebten nach SOEP-Daten 17,8 Prozent der Menschen in Deutschland in Armut, 11,3 Prozent sogar in strenger Armut. Das heißt, sie hatten weniger als 60 beziehungsweise 50 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommens zur Verfügung. Ein Singlehaushalt gilt damit als arm, wenn das Einkommen unter 1350 Euro im Monat liegt. Bei unter 1120 Euro wird von strenger Armut gesprochen. Je nach Personenzahl gelten für jeden Haushaltstyp andere absolute Armutsgrenzen – das verbirgt sich hinter dem Begriff „bedarfsgewichtetes Einkommen“.
2010 lag die Armutsquote noch bei 14,2 und die Quote strenger Armut bei 7,8 Prozent. Seitdem sei die Armutsquote mit gelegentlichen jährlichen Schwankungen kontinuierlich angestiegen, so Spannagel und Brülle. Besonders beunruhigend sei, dass mangelnde materielle Teilhabe und um sich greifende Verunsicherung den Erhebungen der Hans-Böckler-Stiftung zufolge „negative Folgen für unser demokratisches System“ haben, warnen die Forschenden. Eine verantwortungsvolle Politik müsse auf jeden Fall darauf verzichten, verschiedene Gruppen in der Gesellschaft gegeneinander auszuspielen, wie es etwa in der Debatte um das Bürgergeld in den vergangenen Monaten geschehen sei. Viel sinnvoller sei es, „Niedriglöhne wirksam zu bekämpfen und Tarifbindung zu stärken – Maßnahmen, die auch Menschen außerhalb des Grundsicherungsbezugs zugutekommen“.
Dorothee Spannagel, Jan Brülle: Ungleiche Teilhabe: Marginalisierte Arme – verunsicherte Mitte. WSI-Verteilungsbericht 2024, WSI Report Nr. 98, November 2024