Quelle: HBS
Böckler ImpulsUSA - EU: Wachablösung bei den Supermächten
Die EU stellt ihre Vorzüge notorisch unter den Scheffel, analysiert Jeremy Rifkin. Er fordert einen neuen Blick auf die "Vereinigten Staaten von Europa", den Kontinent der Zukunft.
Die EU stellt ihre Vorzüge notorisch unter den Scheffel, analysiert Jeremy Rifkin. Er fordert einen neuen Blick auf die "Vereinigten Staaten von Europa", den Kontinent der Zukunft.
"Nach Berlin besuchen wir noch Europa, Persien und Heidelberg ..." mokiert Kurt Tucholsky sich 1927 über reisende Amerikaner. Jeremy Rifkin, der wirtschaftswissenschaftliche Trendforscher und populäre Querdenker aus den USA, diagnostiziert bei seinen Landsleuten ein ähnlich eingeschränktes Weltbild. Mit Europa assoziieren sie überholte Strukturen, eine kranke Wirtschaft, unflexible Arbeitsmarktpolitik, Wohlfahrtsbürokratie, kurz: die "Eurosklerose". Diese Sicht ist falsch, sagt der US-Forscher.
Für den ausgewiesenen Europakenner Rifkin ist Europa ein Traum. Er belegt mit Zahlen und Fakten, dass die EU die größte Volkswirtschaft der Welt ist:
- Das Bruttoinlandsprodukt der EU ist höher als das der USA,
- der Euro ist stärker als der Dollar,
- mit 455 Millionen Konsumenten ist Europa der größte Binnenmarkt der Welt und zudem
- die größte Exportmacht.
Die falsche Einschätzung kommt vom falschen Blickwinkel, meint Rifkin: Die USA und Europa dürfen nur als Ganzes verglichen werden, einzelne EU-Länder also nur mit einzelnen US-Staaten. Deutschland als wirtschaftsstärkstes EU-Land folglich mit Amerikas Nummer 1, Kalifornien, Großbritannien mit New York, Frankreich mit Texas und so fort. Dabei schneiden die Länder Europas hervorragend ab und verweisen ihr amerikanisches Pendant stets auf die Plätze.
Europa entwickelt sich zur neuen Supermacht. Vierzehn der zwanzig größten Handelsbanken und 61 der 140 größten Unternehmen sind europäisch. Globale Unternehmen europäischer Herkunft können immer häufiger mit ihren amerikanischen Wettbewerbern mithalten.
Die Lebensqualität ist in Europa höher als in den USA. Die medizinische Versorgung ist besser, die Kindersterblichkeit geringer, die Lebenserwartung höher. Europäische Kinder sind besser in der Schule, ihre Eltern haben sechs Wochen Urlaub - und nicht nur zwei. Beim Wohlstand liegen die USA auf Platz 24 der Industrienationen. In Europa ist der Unterschied zwischen Arm und Reich geringer als in den USA, und es gibt weniger Arme.
Amerikaner träumen von Wirtschaftswachstum, Wohlstand und Unabhängigkeit, Europäer von Nachhaltigkeit, Lebensqualität und Gemeinschaft. Der amerikanische Traum beruht auf Anpassung, Unterschiede verschmelzen im großen "melting pot". Der europäische Traum ist die kulturelle Identität in einer multikulturellen Welt. Rifkin ist aber kritisch: Die Europäer haben diesen Traum noch lange nicht erreicht. Sie sind Fremden gegenüber nach wie vor skeptisch, Antisemitismus und Diskriminierung religiöser Minderheiten nehmen zu. Doch Rifkin ist auch Optimist: "Vor über 200 Jahren erschufen die Amerikaner einen Traum, der die Welt veränderte. Heute entwirft eine neue Generation von Europäern einen radikal neuen Traum - einen Traum, der den Herausforderungen der vernetzten und globalisierten Welt im 21. Jahrhundert besser gerecht wird. Vielleicht können wir von unseren Freunden in Europa etwas lernen."
Jeremy Rifkin: Die Geburt des europäischen Traums, in: Die Politische Meinung 4/2005
Europas Traum - Europas Wirklichkeit?, Interview mit Jeremy Rifkin im Magazin Mitbestimmung 11/2004