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HBS Böckler Impuls

Wirtschaftskrise: Vom globalen Ungleichgewicht zum globalen Absturz

Ausgabe 10/2009

Eine Wirtschaft, in der die Masse der Bevölkerung nur unzureichend an den Einkommenszuwächsen teilhat, kann nicht dauerhaft wachsen. Die ungleiche Verteilung ist eine der Wurzeln der Weltwirtschaftskrise, zeigt eine Analyse des IMK.

Eine funktionierende Marktwirtschaft mit nachhaltigem Wachstum ist auf Dauer nur möglich, wenn auch die Einkommen aller Bevölkerungsschichten wachsen. Das wies John Maynard Keynes bereits 1936 nach, als er im Kontext der Weltwirtschaftskrise ab 1929 die wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen seiner "Allgemeinen Theorie" formulierte. Der Nationalökonom sah durchaus eine soziale und ökonomische Rechtfertigung für Einkommensunterschiede. Doch sei eine relativ gleichmäßige Einkommensverteilung notwendig, um eine kräftige und nachhaltige private Konsumnachfrage zu gewährleisten. "Diese Grundregel wurde sowohl im Vorfeld der Großen Depression als auch in der jüngeren Vergangenheit missachtet", so das IMK. Das stürzte die Weltwirtschaft in beiden Fällen in die Rezession.

Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts nahm innerhalb der größeren Industriestaaten die ökonomische Ungleichheit teilweise dramatisch zu.

Gewinneinkommen stiegen weitaus stärker als Arbeitseinkommen. Auch die Einkünfte der Wohlhabenden entwickelten sich vortrefflich; die mittleren und die niedrigen Verdienste erodierten. In den USA beispielsweise ist die Verteilung der Einkommen heute wieder etwa so ungleich wie in den 1920er-Jahren.

Allerdings fielen die Reaktionen auf die zunehmende Ungleichheit sehr unterschiedlich aus: Die USA und Großbritannien erleichterten  den unteren Einkommensschichten die Verschuldung, der private Konsum wuchs lange Zeit kräftig. Nach dem Platzen der jüngsten Immobilienblase in den USA waren damit aber auch Zahlungsschwierigkeiten der niedrigen Einkommensgruppen programmiert.

In Deutschland hingegen reagierten viele Privathaushalte auf die seit langem stagnierenden Reallöhne und sozialpolitischen Einschnitte mit Konsumverzicht, statt sich deutlich zu verschulden. Das bedeutete eine anhaltende Schwäche der Binnennachfrage. Denn die oberen Einkommensgruppen profitierten zwar vom Anstieg der Gewinne und Vermögen sowie von Steuerentlastungen, sparten aber große Teile dieses Geldes. Damit wuchs in Deutschland die Wirtschaft über einen langen Zeitraum nur mäßig.

Die verschiedenen Wege, die einzelne Länder im Umgang mit der zunehmenden Einkommensungleichheit einschlugen, hatten weltwirtschaftlich gravierende Konsequenzen. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien hielten über eine Kombination aus antizyklischer Stabilisierungspolitik und übermäßig deregulierten Finanzmärkten das Wachstumstempo hoch. Allerdings finanzierte sich die starke Nachfrage über eine Verschuldung im Ausland. Damit entstanden erhebliche außenwirtschaftliche Defizite.

Deutschland und Japan versuchten dagegen, über mehr internationale Wettbewerbsfähigkeit - sprich: vergleichsweise geringe Lohnzuwächse - ein hohes Wachstum zu erzeugen. Wegen der schwachen Binnennachfrage gelang dies zwar deutlich schlechter. Die Exporte wurden so jedoch beflügelt, die Überschüsse im Außenhandel wuchsen. Das in den Überschussländern erwirtschaftete Kapital floss kontinuierlich in die Defizitländer. Es entstand, so das IMK, "ein Zirkel wechselseitiger Abhängigkeit".

Die neuen Finanzmarktprodukte, die eigentlich Risiken streuen und damit Sicherheit erzeugen sollten, erwiesen sich als Zeitbombe für die Stabilität des Finanzsystems. Beispielhaft nennt das IMK hier den Handel mit Derivaten, der zumeist eben nicht der Absicherung von Geschäften diente, sondern als Anlagestrategie verfolgt wurde.

"Tatsächlich sind Derivate dann aber vielfach nichts anderes als Wetten auf unsichere Zukunftsergebnisse", schreiben die Wirtschaftsforscher. Bei diesen gebe es zwangsläufig Verlierer, ohne dass die Gewinner einen Beitrag zur Wertschöpfung geliefert hätten. Daher war es unvermeidlich, dass ein Großteil des eingesetzten Kapitals zur Vernichtung freigegeben war. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht hätte es nahezu überall renditeträchtiger verwendet werden können. 

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Wie die Lemminge

Hat eine globale Wirtschaftskrise erst einmal begonnen, kann sich die private Wirtschaft nicht mehr allein daraus lösen, zeigt Paul De Grauwe. Der Wirtschaftsprofessor an der Universität Leuven in Belgien hat vier Abwärtsspiralen ausgemacht, die allesamt aus Koordinationsproblemen resultieren:

1. Das keynesianische Sparparadox. Wenn einzelne Unternehmen oder ein einzelner Haushalt verstärkt sparen wollen, ist dies kein Problem. In der derzeitigen Krise wollen aber alle sparen. Das klappt nicht, denn: Der Rückgang der Ausgaben lässt die gesamtwirtschaftliche Produktion sinken - und damit auch die Einkommen.

2. Die Fisher'sche Schuldendeflation. In einer Finanzkrise versucht jeder, wegen steigender Kreditkosten und versiegender Einkommen Schulden abzubauen. Alle verkaufen ihre Wertpapiere zur gleichen Zeit; deren Kurse fallen ins Bodenlose.

3. Die Deflation im Bankensektor. Die Banken wollen alle ihre unsicheren Kredite reduzieren und auch keine riskanten neuen vergeben. Letztlich erhöht das jedoch die Unsicherheit: Denn die restriktivere Kreditgewährung zwingt auch gesunde Unternehmen in die Knie.

4. Die Kostendeflation in der Realwirtschaft. In Zeiten wirtschaftlicher Schwäche versuchen Unternehmen, ihre Kosten über Lohnzugeständnisse ihrer Beschäftigten oder deren Entlassung zu senken. Wenn alle das Gleiche tun, sinken die Einkommen. Die Absatzkrise wird schlimmer.

Einhalt gebieten können all diesen Entwicklungen nicht die Selbstheilungskräfte des Marktes, sondern nur die Staaten, so das IMK. "Sie müssen bereit sein, in der Weltwirtschaftskrise mehr auszugeben, sich mehr zu verschulden, für günstigere Kreditkonditionen zu sorgen und die Einkommen zu stabilisieren, um dem Nachfrageausfall im privaten Sektor entgegenzuwirken."

  • In Deutschland reagierten viele mit Konsumverzicht auf die stagnierenden Reallöhne. Die Wohlhabenden sparten große Teile ihres wachsenden Einkommens aus Gewinnen und Vermögen. Die USA hingegen erleichterten den unteren Einkommensschichten die Verschuldung. Zur Grafik
  • Das in den Überschussschussländern – darunter Deutschland, Japan und China – erwirtschaftete Kapital floss kontinuierlich in Defizitländer wie Großbritannien, Spanien und die USA. Zur Grafik

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