Quelle: HBS
Böckler ImpulsPolitikberatung: Vielfalt tut not
Die Ratschläge von Ökonomen an die Politik fallen zu einseitig aus. Meinungsverschiedenheiten sind dringend notwendig. Denn oft genug liegt der Mainstream gründlich daneben – wie in der Finanzkrise oder beim Mindestlohn.
Meinungsverschiedenheiten unter Ökonomen werden in den Medien häufig als schädlich dargestellt – so wie in den vergangenen Jahren die Auseinandersetzungen im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, umgangssprachlich „die Wirtschaftsweisen“ genannt. Einer der Wirtschaftsweisen, Peter Bofinger, vertritt in wirtschaftspolitischen Fragen häufig andere Positionen als die übrigen vier Mitglieder. Die unterschiedlichen Ansichten und die Minderheitsvoten Bofingers gelten vielen Beobachtern als Zeichen einer Dysfunktionalität des Sachverständigenrates. Um die Politik zu beraten, sollten die Ökonomen mit einer Stimme sprechen, so die Forderung. In einer überregionalen Zeitung wurden Bofingers Ansichten sogar als „der größte Kokolores“ bezeichnet.
Sebastian Dullien von der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin (HTW) und Gustav Horn vom IMK widersprechen dieser Sichtweise in einem aktuellen Fachartikel. Die Forderung nach einheitlichen Positionen der politikberatenden Ökonomen beruhe „auf einem fundamentalen Unverständnis“ der Wirtschaftswissenschaften. Ein lebendiger Diskurs könne überhaupt erst entstehen, wenn unterschiedliche Denkschulen und Ansätze zu Wort kommen. Die Wissenschaftler erklären, warum in der Volkswirtschaftslehre und insbesondere in der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung mehr Pluralismus notwendig ist; und sie machen Vorschläge, wie sich Meinungsvielfalt erreichen ließe.
Anders als in den Naturwissenschaften beruhten die Schlussfolgerungen der Volkswirtschaftslehre nun mal in besonderem Maße – neben wissenschaftlichen Annahmen – auch auf Wertvorstellungen, auch wenn viele Volkswirte dies abstritten, so Horn und Dullien. Außerdem gebe es auch in den Naturwissenschaften bei wichtigen Fragen immer wieder Dissens über Wirkungszusammenhänge – in jüngerer Zeit etwa bei der Frage nach der Rolle von Viren bei der Entstehung von Krebs oder bei der Frage der Kontinentaldrift.
Dullien und Horn argumentieren, nicht Bofinger sei das Problem. Sie halten für problematisch, dass die anderen vier Ratsmitglieder in den vergangenen Jahren viel zu einig gewesen seien. In zentralen Wirtschaftsfragen habe es kaum Abweichungen gegeben – viel weniger, als man vermuten würde, wenn man vier Volkswirte zufällig auswählte. „Einiges deutet darauf hin, dass die Besetzung des Sachverständigenrates in den vergangenen Jahren sogar weniger plural war als die deutsche VWL-Profession insgesamt.“
Zu viel Einmütigkeit, um nicht zu sagen Einseitigkeit, birgt den Autoren zufolge die Gefahr, dass alternative Ansätze zu kurz kommen. Das habe sich in der Finanzkrise gezeigt. Selbst als sich damals die wirtschaftliche Talfahrt bereits deutlich abzeichnete, konnte sich der Sachverständigenrat nicht dazu durchringen, in klaren Worten ein Konjunkturprogramm zu empfehlen. Eine solche nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik mochte nicht ins Weltbild der Wirtschaftsweisen passen. „Dieses Beispiel zeigt, dass eine monoparadigmatische Politikberatung gerade in Krisenzeiten mit hohen Risiken für Wachstum verbunden sein kann“, schreiben Dullien und Horn. Die Bundesregierung habe die Ratschläge des Sachverständigenrates glücklicherweise kaum beachtet und sich für ein Konjunkturpaket entschieden. „Der Erfolg einer überaus raschen und kräftigen konjunkturellen Erholung gab ihr recht.“ Weitere Beispiele, bei denen der Sachverständigenrat mit seiner einseitigen Ausrichtung danebenlag, ließen sich leicht aufführen: etwa bei den Analysen rund um die Einführung des Mindestlohns oder zu den Auswirkungen von Liberalisierungen auf den Arbeitsmarkt.
„Wichtige wirtschaftspolitische Fragen sollten aus unterschiedlichen Perspektiven und möglichst von Ökonomen und Ökonominnen unterschiedlicher paradigmatischer Ausrichtung untersucht werden“, fordern Horn und Dullien. Das bedeutet: Ministerien oder andere Entscheider sollten bewusst mehrere Gutachten von widerstreitenden Denkschulen einholen. Ein positives Beispiel sei die Mindestlohnkommission, die Analysen zur Bewertung der makroökonomischen Folgen des gesetzlichen Mindestlohns sowohl aus „keynesianisch geprägter Perspektive“ als auch aus „neoklassisch geprägter Perspektive“ in Auftrag gegeben hat. Darüber hinaus gelte es, die Rolle wichtiger wirtschaftspolitischer Institutionen wie des Sachverständigenrates, der wissenschaftlichen Beiräte in den Ministerien und der Wirtschaftsforschungsinstitute zu überdenken.
Denkbar wäre, die wissenschaftlichen Beiräte in Ministerien jeweils komplett neu zu Beginn einer Legislaturperiode zu besetzen. Dadurch würde man eine Überalterung verhindern und nebenbei dafür sorgen, dass aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse aufgegriffen werden. Für die Wirtschaftsforschungsinstitute bedeute die Forderung nach mehr Pluralität: Jedes Institut sollte eigene Perspektiven und Profile erarbeiten, auf deren Basis es zentrale Fragen wissenschaftlich untersucht. „Ein erzwungener Konsens über Methoden, Ansätze und Schlussfolgerungen scheint hier eher kontraproduktiv“, schreiben die Wissenschaftler von HTW und IMK. Nicht zuletzt müsse Pluralismus auch an den Universitäten gefördert werden: Wichtig wären konkurrierende Fakultäten mit einem unterschiedlichen Verständnis von Volkswirtschaftslehre. „Am Ende würde dann ein solcher Pluralismus nicht zu mehr Verwirrung führen – wie von einigen Vertretern des Status quo behauptet –, sondern zu Erkenntnisgewinn und der Möglichkeit einer Verbesserung der Qualität wirtschaftspolitischer Entscheidungen.“
Die Volkswirtschaftslehre in Deutschland befindet sich im Umbruch. Vermeintliche Gewissheiten wurden durch die Finanzkrise erschüttert, Fehlprognosen haben das Ansehen in der Öffentlichkeit beschädigt, Studierende klagen über einseitige Lehrmeinungen. Wohin wird sich Wirtschaftswissenschaft entwickeln? Und was denken die Ökonomen selbst über ihre Zunft? Das zeigen große Umfragen unter Deutschlands Wirtschaftswissenschaftlern in den Jahren 2006, 2010 und 2015, die Thomas Fricke im Auftrag des Forschungsinstituts für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) ausgewertet hat. Ergebnis: Fast die Hälfte der Befragten sieht die VWL aktuell in einer Legitimationskrise.
In der Kritik steht häufig die vorherrschende neoklassiche Denkschule. Bis zur Krise dominierte deren „angebotstheoretisches Paradigma“ die Forschung und Lehre, schreibt Fricke. Die Finanzkrise habe dazu beigetragen hat, dieses Meinungsbild zu verändern, zumal es an der Basis nie einen hermetisch geschlossenen Block gegeben habe. Ein neues Leitbild habe sich bisher aber auch noch nicht durchgesetzt. „Das Problem könnte vielmehr darin liegen“, schreibt Fricke, „dass neue Ansätze in den Wirtschaftswissenschaften und der wirtschaftspolitischen Beratung von den öffentlich stark präsenten, führenden Ökonomen in Deutschland eher gebremst als befördert werden“.
Thomas Fricke: Altes Einheitsdenken oder neue Vielfalt? Eine systematische Auswertung der großen Umfragen unter Deutschlands Wirtschaftswissenschaftler_innen (pdf), FGW-Studie Neues ökonomisches Denken 03, April 2017
Sebastian Dullien, Gustav Horn: Im Diskurs bestehen. Über den notwendigen Pluralismus in der ökonomischen Politikberatung, List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, Februar 2019