Quelle: HBS
Böckler ImpulsFachkräftemangel: Viel Potenzial
Sozialkürzungen taugen nicht dazu, das Arbeitskräfteangebot zu erhöhen. Nötig sind mehr Geld für Kitas, Schulen und Qualifizierungen sowie alternsgerechte Arbeitsbedingungen.
In der Debatte über fehlende Fachkräfte behaupten manche, es brauche nur mehr Druck – etwa Kürzungen beim Bürgergeld oder eine Erhöhung des Rentenalters. Doch das geht an der Realität vorbei, so eine WSI-Analyse. WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch und WSI-Qualifizierungsexpertin Magdalena Polloczek empfehlen, die bislang ungenutzten Potenziale von Menschen zu erschließen, die als Fachkräfte arbeiten könnten. Falsch und riskant sei es dagegen, schwache gesellschaftliche Gruppen gegeneinander auszuspielen, etwa Geringverdienende gegen diejenigen, die Bürgergeld beziehen. Das gefährde den sozialen Zusammenhalt, dürfte aber nur wenig am Fachkräftemangel ändern.
Weitaus erfolgversprechender sei es, die Potenziale am Arbeitsmarkt nachhaltig auszuschöpfen, erklären Kohlrausch und Polloczek. So hatten im Jahr 2022 knapp 2,9 Millionen der 20- bis 34-Jährigen keinen formal qualifizierenden Berufsabschluss. 66 Prozent von ihnen waren zwar erwerbstätig. Sie haben aber ein höheres Risiko, arbeitslos zu werden. Um sie langfristig in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sei es nötig, die Instrumente der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik auszuweiten, damit die Betroffenen etwa eine Ausbildung absolvieren oder sich weiterbilden können, so die Expertinnen.
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Um eine Million würde sich die Zahl der Erwerbstätigen laut einer Analyse des Bundesarbeitsministeriums (BMAS) bis zum Jahr 2027 erhöhen, wenn die Erwerbsbeteiligung von Frauen um zehn Prozent stiege. Dabei sind die Fachkräfte gegengerechnet, die benötigt würden, um die von den Frauen erbrachte Sorgearbeit in Form von Kinderbetreuung und Pflege im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge zu gewährleisten. Der Staat sollte nicht nur diese zusätzlichen Fachkräfte einstellen, sondern auch Anreize für eine ungleiche Verteilung der Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern abbauen, schreiben Kohlrausch und Polloczek. Dafür könnte er etwa das Ehegattensplitting abschaffen oder die Ausgestaltung des Elterngeldes reformieren.
Stiegen die Erwerbsquoten der Nicht-Deutschen auf das Niveau derjenigen mit deutscher Staatsangehörigkeit an, würde das laut den Berechnungen des BMAS für das Jahr 2027 ein Plus von rund 850 000 Beschäftigten bedeuten. Auch hier sei die Kinderbetreuung ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt, heben die Forscherinnen hervor. Familien mit Migrationserfahrungen seien in Kitas deutlich unterrepräsentiert, was die Erwerbschancen der Eltern mindert. Ein Ausbau der institutionalisierten Kinderbetreuung berge außerdem die große Chance, Bildungspotenziale für zukünftige Fachkräfte auszuschöpfen.
Schließlich ergeben die BMAS-Szenarien, dass eine Angleichung der Erwerbsquoten der 55- bis 60-Jährigen und der 60- bis 65-Jährigen an diejenigen der jeweils vorangehenden Altersgruppen auf 667 000 zusätzliche Erwerbstätige hinauslaufen würde. Dafür müsste sich jedoch etwas im betrieblichen Personal- und Gesundheitsmanagement tun. So zeigen aktuelle WSI-Untersuchungen, dass die Möglichkeiten, den Beschäftigten das Arbeiten bis zum Rentenalter zu erleichtern, momentan nicht ausgeschöpft werden.
Eine besondere Herausforderung bestehe darin, dass aktuell in einigen Branchen Fachkräftemangel besteht, während in anderen Jobs abgebaut werden, schreiben Kohlrausch und Polloczek. Vor diesem Hintergrund sei neben der Sicherung von Arbeitsplätzen vor allem der Ausbau der Weiterbildung notwendig. Die im Koalitionsvertrag der Bundesregierung vereinbarte Bildungs(teil)zeit wäre nach Einschätzung der Forscherinnen ein wichtiges Instrument, das allerdings nicht umgesetzt worden ist. Beim neu eingeführten Qualifizierungsgeld müsse sich erst noch zeigen, ob es in seiner jetzigen Ausgestaltung dazu in der Lage ist, Ungleichheiten beim Zugang zu Weiterbildung auszugleichen.
Parallel und noch grundsätzlicher gelte es, für eine inklusive Bildungsstruktur zu sorgen, erklären die WSI-Expertinnen. Dazu gehörten mehr pädagogische Ressourcen an Schulen, um auf die größer werdende Heterogenität in der Schülerschaft zu reagieren und insbesondere Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte früh gut zu integrieren. Die Betriebe wiederum müssten sich stärker auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Beschäftigten, beispielsweise von Älteren oder solchen mit Sorgeverantwortung, einstellen.
Bettina Kohlrausch, Magdalena Polloczek: Fachkräftemangel mit den Menschen beheben – nicht gegen sie, WSI-Kommentar Nr. 5, Dezember 2024