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Verunsicherte Gesellschaft Böckler Impuls

Demokratie: Verunsicherte Gesellschaft

Ausgabe 07/2024

Die Krisen der vergangenen Jahre haben der AfD Auftrieb gegeben. Der Staat könnte Vertrauen zurückgewinnen, indem er insbesondere untere Einkommensgruppen entlastet.

Nach fast vier Jahren Krise sind Erfahrungen und Stimmungen in Deutschland sehr gemischt. Das zeigt die aktuelle Welle des Erwerbspersonenpanels der Hans-Böckler-Stiftung vom November 2023. Mehr als ein Viertel der Befragten berichtet von starken finanziellen Belastungen. 60 Prozent haben ein geringes oder gar kein Vertrauen in die Bundesregierung. Es gibt erheblichen Zuspruch zu antidemokratischen Kräften. Andererseits scheint sich das Vertrauen in andere staatliche und gesellschaftliche Institutionen zu stabilisieren und die eigene Gesamtsituation wird oft etwas günstiger eingeschätzt als zuvor.

„Die aktuelle Erhebung zeigt eine von multiplen Krisen verunsicherte, aber nicht erschütterte Gesellschaft“, fasst WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch die Befunde zusammen. Die Soziologin wertet die Wiederholungsbefragung, an der zuletzt 5200 Erwerbstätige und Arbeitssuchende teilgenommen haben, zusammen mit den WSI-Forschern Andreas Hövermann und Helge Emmler aus.

Ursächlich für die Verunsicherung seien die großen finanziellen Belastungen durch die hohe Inflation, die in den vergangenen beiden Jahren vor allem die unteren Einkommensgruppen stark getroffen hat – auch wenn die Teuerungsrate mittlerweile deutlich gesunken ist, erklärt Kohlrausch. Daraus speise sich auch zu einem beträchtlichen Teil der Vertrauensverlust der Bundesregierung und die Zustimmung zur AfD, die zwischen den Befragungswellen im Juli und November 2023 erneut leicht gestiegen ist. Mögliche Veränderungen, die sich mit den Berichten des Recherche-Netzwerks Correctiv über die AfD und den großen Demonstrationen zum Schutz der Demokratie ab Januar 2024 ergeben haben, sind in den Daten nicht erfasst.

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Gleichzeitig sei es sehr wichtig, auf Unterschiede zwischen individuellen Krisenreaktionen zu schauen, betont WSI-Experte Hövermann. Unabhängig von ihrer tatsächlichen finanziellen Situation fühle sich die AfD-Wählerschaft durch die aktuellen Krisen stärker betroffen und verunsichert als die Wählerschaft anderer Parteien. Ganz offensichtlich gelinge es der AfD besonders gut, aus Unsicherheiten und Belastungen Kapital zu schlagen.

Gleichwohl zeige sich in den Befragungsergebnissen aber, dass sich das Vertrauen in staatliche und gesellschaftliche Institutionen jenseits der Bundesregierung bei vielen Menschen stabilisiert hat. Ähnliches gilt für die Sorgen – wobei diejenigen um die eigene wirtschaftliche Situation bei einem Viertel der Befragten weiter hoch sind. „Auch in turbulenten Zeiten sollte man also nicht aus den Augen verlieren, dass die Gesellschaft über Ressourcen verfügt, die sie stabilisieren. Es gilt, diese Ressourcen zu stärken und destabilisierenden Entwicklungen etwas entgegenzusetzen, insbesondere der starken Belastung der unteren Einkommensgruppen, die trotz sinkender Inflation nachwirkt“, sagt Kohlrausch. „Dafür ist es auch notwendig, dass deutlich wird, dass die Krisen durch staatliches Handeln gestaltbar sind. Debatten um einen Rückzug des Staates, zum Beispiel in der Sozialpolitik, sind hier kontraproduktiv.“

Dass Befragte mit Tendenz zur Wahl der AfD bei der wahrgenommenen Krisenbetroffenheit und Verunsicherung weit vorne liegen, hängt laut der Auswertung auch damit zusammen, dass Personen mit niedrigeren Einkommen überdurchschnittlich oft AfD wählen. Allerdings erklärt das nur einen Teil der Differenz: Selbst bei vergleichbaren Einkommen sehen sich Wählerinnen und Wähler der AfD viel häufiger durch die Krisen betroffen und sind öfter verunsichert als diejenigen, die andere Parteien wählen. „Die von der AfD verbreiteten Untergangsszenarien verfangen beim Personenkreis, der AfD wählen will, offenbar nicht nur besonders gut, sie zeigen auch ihre Wirkung und verstärken die Verunsicherung in ihrer Wählerschaft“, sagt Hövermann.

Gleichzeitig zeichnet sich beim Vertrauen in wichtige staatliche und gesellschaftliche Institutionen insgesamt eher eine Stabilisierung ab. Nachdem das Vertrauen gegenüber fast allen Institutionen unmittelbar nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine zurückgegangen war, hat es sich anderthalb Jahre später stabilisiert. Lediglich das Vertrauen in die Bundesregierung befindet sich auf dem niedrigsten Stand, der im Rahmen der Erwerbspersonenbefragung bisher gemessen wurde.

Die Anhängerschaft der AfD zeichnet sich generell durch ein stark unterdurchschnittliches Institutionenvertrauen aus. Das gilt auf unterschiedlichem Niveau für Polizei, Justiz oder Bundeswehr ebenso wie für Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände. Extrem niedrig sind die Werte beim Vertrauen zu öffentlich-rechtlichen Medien und zur Bundesregierung – nur 4 beziehungsweise 1 Prozent der Befragten mit AfD-Präferenz äußern hier großes oder sehr großes Vertrauen. Zugleich haben diese Befragten überdurchschnittlich großes Vertrauen in die von ihnen bevorzugte Partei. Hier zeige sich die Abwendung und ausgeprägte Entfremdung vieler AfD-Anhängerinnen und -Anhänger von zentralen demokratischen Institutionen, so Hövermann.

Schaut man auf alle Befragten, scheinen sich die Erwerbspersonen in Deutschland jenseits der finanziellen Situation tendenziell eher weniger belastet zu fühlen als während der akuten Coronakrise und im ersten Jahr des Ukrainekriegs. Das gilt für die familiäre Situation und für die Arbeitssituation. Die wahrgenommenen Belastungen im Hinblick auf die Gesamtsituation sind zuletzt zwar wieder leicht gestiegen, liegen aber ebenfalls deutlich unter dem Niveau der Jahre 2020 bis 2022.

Sorgen um die Preisentwicklung liegen weiterhin auf hohem Niveau, die Besorgnis um die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung steigt wieder. Gesellschaftsbezogene Sorgen, beispielsweise um den Zusammenhalt im Land oder im Hinblick auf soziale Ungleichheit, nahmen bis Ende 2023 weiter zu. Der Anstieg ist in weiten Teilen der Bevölkerung zu verzeichnen und nicht auf einzelne gesellschaftliche Gruppen begrenzt – ebenfalls ein Anzeichen für eine zunehmend verunsicherte Gesellschaft.

Die Einstellungen gegenüber Menschen, die aufgrund des Krieges in der Ukraine nach Deutschland geflohen sind, sind zwischen Kriegsbeginn und November 2023 deutlich kritischer geworden. Zuletzt waren 68 Prozent der Befragten der Meinung, Deutschland könne nicht noch mehr Geflüchtete aufnehmen – 30 Prozentpunkte mehr als kurz nach dem russischen Überfall. Nachdem direkt nach Kriegsbeginn noch zwei von drei Befragten optimistisch waren, dass Deutschland die Integration der Geflüchteten gelinge, geben dies zuletzt nur noch 40 Prozent an. Die AfD-Wählerschaft vertritt in allen Fragen zu Flucht und Integration weitaus skeptischere Positionen als die Wählerinnen und Wähler anderer Parteien. Hier zeige sich, wie sehr diese Themen die AfD-Klientel emotionalisieren und mobilisieren, stellt Hövermann fest.

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