Quelle: HBS
Böckler ImpulsGesundheitsreform: Versicherungspflicht: Die Lücke schließt sich
Ein Erfolg der Gesundheitsreform: Die Zahl der Menschen ohne Krankenversicherung ist zuletzt deutlich gesunken. Trotzdem bleiben Hürden. Und ohne konsequente staatliche Kontrolle der neuen Versicherungspflicht drohen den Kassen wachsende Beitragsausfälle.
Knapp 120.000 Menschen, die zuvor nicht krankenversichert waren, haben zwischen April 2007 und September 2008 wieder Versicherungsschutz gefunden. Das haben Professor Stefan Greß, Anke Walendzik und Professor Jürgen Wasem in einer neuen, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Untersuchung ermittelt. Damit zeigen die ersten beiden Stufen der allgemeinen Versicherungspflicht in Deutschland Wirkung: Im 1. Quartal 2007, unmittelbar bevor die neue Regelung in Kraft trat, lebten in der Bundesrepublik rund 211.000 Menschen ohne Absicherung im Krankheitsfall. Und seit Mitte der 90er-Jahre war die Zahl der Nicht-Versicherten kontinuierlich gewachsen, wie die Gesundheitsökonomen an der Hochschule Fulda und der Universität Duisburg-Essen 2005 in einer Vorläuferstudie herausgearbeitet hatten.
Pflicht für beide Seiten. Die große Koalition hat die Versicherungspflicht als Reaktion auf diese Tendenz in ihr "GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz" aufgenommen. Sie bindet Bürger und Versicherer gleichermaßen: Alle Einwohner der Bundesrepublik werden gesetzlich verpflichtet, eine Krankenversicherung abzuschließen. Das gilt jetzt schon für alle Menschen, die sich in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichern müssen, also für die meisten Arbeiter und Angestellten. Ab Januar 2009 wird die Versicherungspflicht auch auf die potenziellen Versicherten der Privaten Krankenversicherung (PKV) ausgedehnt, etwa Selbstständige und Beamte. Im Gegenzug müssen die Versicherer Barrieren abbauen, die es erschweren, Versicherungsschutz zu bekommen oder zu behalten. Die Kassen der GKV können nun beispielsweise den Vertrag mit säumigen Zahlern nur noch sehr schwer kündigen. Auch die Privatversicherungen müssen ihre - generell höheren - Zugangshürden zum Teil absenken. Sie sind verpflichtet, Versicherungswilligen einen Basistarif anzubieten, für den Höchstbeiträge festgesetzt und Risikozuschläge ausgeschlossen sind.
Schwieriger Zielkonflikt. In ihrer Zwischenbilanz sprechen Greß, Walendzik und Wasem von einem "Teilerfolg" der Versicherungspflicht: "Mehr als die Hälfte der im ersten Quartal 2007 nicht versicherten Personen hat bis September 2008 wieder Versicherungsschutz erhalten." Dass bei den Forschern trotz solcher Fortschritte eine gewisse Zurückhaltung mitschwingt, hat zwei unterschiedliche Gründe. Die Wissenschaftler beschreiben sie als Teile eines schwer zu lösenden Zielkonflikts "zwischen möglichst barrierefreiem Krankenversicherungsschutz und dem Schutz der Versichertengemeinschaft vor Missbrauch". Denn einerseits werden nach wie vor potenzielle Versicherte abgeschreckt: Etwa durch Nachzahlungen, die nach einem verspäteten Eintritt in die GKV fällig werden - rückwirkend zum Beginn der Versicherungspflicht am 1. April 2007 - vor allem aber durch relativ hohe Prämien und Karenzzeiten in der PKV. Davon betroffen sei gerade "eine zentrale Risikogruppe für Nichtversicherte, nämlich die so genannten kleinen Selbstständigen ohne vormaligen gesetzlichen Krankenversicherungsschutz", betonen die Forscher. Andererseits melden die gesetzlichen Krankenkassen bereits Beitragausfälle in Millionenhöhe durch säumige Neu-Versicherte. Weil ein Aufnahmeanspruch besteht und Kündigungen wegen Beitragsrückständen kaum möglich sind, werden "individuelle Optimierungskalküle" auf Kosten der Versichertengemeinschaft attraktiver: So könnten manche Nichtversicherte erst dann Versicherungsschutz suchen, wenn sie gesundheitliche Beschwerden haben - oder freiwillig Versicherte die Beitragszahlungen einstellen, wenn es finanziell eng wird.
Zwiespältige Erfahrungen aus dem Ausland. In den Niederlanden und der Schweiz gilt die Versicherungspflicht schon länger. Auch dort hat die an sich sinnvolle Reform Nebenwirkungen offenbart, zeigen die Forscher. In den Niederlanden wurde die Einhaltung der Anfang 2006 eingeführten Versicherungspflicht zunächst nicht überprüft - so wenig wie derzeit in Deutschland. Im Jahr 2007 stagnierte die Zahl der Nichtversicherten, während die der säumigen Versicherten deutlich wuchs. Dabei spielte nach Analyse von Greß, Walendzik und Wasem noch ein weiterer Faktor eine Rolle: Seit der Gesundheitsreform 2006 müssen die niederländischen Versicherten die Hälfte ihrer Beiträge in Form einer einkommensunabhängigen Pauschalprämie bezahlen - zuvor waren es lediglich 20 Prozent. "Durch die Ausweitung des einkommensunabhängigen
Beitragsanteils scheinen - trotz paralleler Einführung eines steuerfinanzierten Zuschusses - insbesondere Personen mit niedrigem Einkommen finanziell überfordert zu werden", schreiben die Gesundheitsökonomen.
In der Schweiz wird die seit 1996 geltende Versicherungspflicht streng überprüft. Gemeinden gleichen Melderegister und Daten der Krankenkasse ab, Versicherungsunwillige können zwangsweise versichert werden. Formaljuristisch gibt es daher keine Eidgenossen ohne Versicherungsschutz. Doch tatsächlich ist das Problem auch in der Schweiz eher verschoben als vollständig gelöst: Eine wachsende Zahl von Versicherten unterliegt der so genannten "Leistungssistierung": Weil sie mit ihren Beiträgen im Rückstand sind, haben sie keinerlei Anspruch auf Versicherungsleistungen, ein Zwangsvollstreckungsverfahren läuft. Erst wenn darin offiziell festgestellt wird, dass die säumigen Versicherten zahlungsunfähig sind, springt der Staat bei den Versicherungsprämien ein. Bis dahin können 8 bis 24 Monate vergehen.
Auf Basis der Erfahrungen im In- und Ausland sehen die Gesundheitsökonomen aus Essen und Fulda zwei zentrale Ansatzpunkte, um die Versicherungspflicht in Deutschland effektiver zu machen:
- Weiterer Abbau von Barrieren. So sollte in der GKV auf die Nachforderung rückständiger Beiträge seit Beginn der Versicherungspflicht verzichtet werden. In der PKV befürworten die Wissenschaftler für den Basistarif ein gesetzliches Verbot von Wartezeiten, bis der Versicherungsschutz gilt.
- Konsequente Überwachung der Versicherungspflicht, etwa durch einen Abgleich von Meldedaten und Versichertenlisten. Als ultima ratio müsse die kontrollierende Behörde die Möglichkeit zur Zwangsversicherung haben.
Auch säumige Versicherte müssen nach Analyse der Wissenschaftler mit Sanktionen rechnen. Diese dürften aber nicht dazu führen, dass der Versicherungsschutz komplett verloren geht. Die nach dem Gesundheitsreformgesetz der Großen Koalition bereits geltende Regelung sehen die Forscher als "sachgerechten Kompromiss": Das Gesetz sieht vor, dass bei fortlaufendem Beitragsverzug das Versicherungsverhältnis ruht, Patienten mit akuten Schmerzen oder in Notfällen aber auf Kassenkosten behandelt werden.
Stefan Greß, Anke Walendzik, Jürgen Wasem: Auswirkungen der Regelungen des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes auf Nichtversicherung im deutschen Krankenversicherungssystem (pdf), Expertise für die Hans-Böckler-Stiftung, Fulda/Essen Oktober 2008.