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HBS Böckler Impuls

Mindestlohn: Unverständlicher Verzicht

Ausgabe 10/2016

Der Europäische Gerichtshof erlaubt den Bundesländern, öffentliche Aufträge mit eigenen Mindestlohn-Sätzen zu vergeben. Doch die meisten wollen davon zukünftig keinen Gebrauch mehr machen.

Es war ein Streit mit weitreichenden Konsequenzen: 2013 suchte die Stadt Landau in Rheinland-Pfalz einen Postdienstleister und knüpfte die Auftragsvergabe entsprechend dem geltenden Landesvergabegesetz an eine Bedingung: Es sollten nur Unternehmen infrage kommen, die ihren Mitarbeitern mindestens 8,70 Euro pro Stunde zahlen. Weil die Firma Regio Post sich nicht daran halten wollte, schied sie beim Vergabeverfahren aus – und klagte dagegen. Im November 2015 gab der Europäische Gerichtshof (EuGH) der Stadt Landau Recht: Sogenannte vergabespezifische Mindestlöhne sind mit dem EU-Recht vereinbar, da sie als „soziale Kriterien“ erlaubt und nicht nur für deutsche, sondern für alle europäischen Unternehmen verpflichtend sind. Zwar greife die Regelung in die europäische Dienstleistungsfreiheit ein, doch der gewonnene Arbeitnehmerschutz sei höher zu bewerten.

Trotz dieser Erlaubnis haben mehrere Bundesländer bereits erklärt, dass sie künftig bei Vergabeverfahren nur den bundesweiten Mindestlohn von derzeit 8,50 Euro pro Stunde verlangen und keinen eigenen Satz vorschreiben werden. Lediglich dort, wo der vergabespezifische bereits über dem bundesweiten Mindestlohn liegt, soll vorerst der eigene, höhere Satz gelten – bis der flächendeckende Mindestlohn angehoben wird. Die Experten Ghazaleh Nassibi vom DGB, Florian Rödl von der Universität Frankfurt und Thorsten Schulten vom WSI halten diese „faktische Aufgabe“ des neu gewonnenen Gestaltungsspielraums für „umso unverständlicher“, als es nicht nur um fairen Lohn, sondern auch um fairen Wettbewerb gehe.

Sie argumentieren, dass vergabespezifische Mindestlöhne nicht nur das Lohndumping im privaten Sektor begrenzen, sondern auch eine Unterbietungskonkurrenz zwischen privaten und öffentlichen Anbietern verhindern. Nordrhein-Westfalen erklärt zum Beispiel explizit, „dass sich die öffentliche Hand nicht durch Auslagerung von Aufgaben auf private Auftragnehmer ihrer Verantwortung für eine angemessene Vergütung der Beschäftigten entziehen kann“. Wann immer NRW Aufträge vergibt, müssen private Unternehmen ihren Beschäftigten mindestens genauso viel zahlen, wie die öffentliche Hand es tun würde. Lohndumping durch Outsourcing ist hier also verboten.

Dass viele Bundesländer trotzdem auf eigene Auftrags-Mindestlöhne verzichten wollen, ist wohl auch der komplexen rechtlichen Lage geschuldet: Zum Zeitpunkt des Streits zwischen Landau und Regio Post existierte noch kein bundesweit einheitlicher Mindestlohn. Jetzt aber gibt es ihn, und das könnte theoretisch bedeuten, dass der EuGH die vergabespezifischen Vorgaben angesichts der neuen Rechtslage für überflüssig halten und seine Entscheidung wieder kippen könnte.

Die Wissenschaftler halten eine solche Kehrtwende jedoch für sehr unwahrscheinlich. So stellt der EuGH eindeutig fest, dass vergabespezifische Mindestlöhne unter die sogenannte Entsenderichtlinie fallen und damit durch das europäische Sekundärrecht gedeckt sind. Zwar ist dieses Sekundärrecht normalerweise dem Primärrecht – und damit der Dienstleistungsfreiheit – untergeordnet, allerdings gilt in der EU-Rechtsprechung der Grundsatz: Wenn eine Richtlinie nicht durch nationale Gesetze verändert werden darf, handelt es sich um eine „Vollharmonisierung“ europäischen Rechts, deren Gültigkeit nicht mehr an dem Primärrecht gemessen werden darf.

Die Autoren räumen zwar ein, dass in der Vergangenheit „soziale Kriterien bei der öffentlichen Auftragsvergabe stets unter einem starken unionsrechtlichen Rechtfertigungsdruck“ standen. Jetzt beobachten sie aber einen „Paradigmenwechsel auf europäischer Ebene“: Neue EU-Vergaberichtlinien verpflichten öffentliche Auftraggeber sogar dazu, umwelt-, sozial- und arbeitsrechtliche Bedingungen bei der Vergabe zu beachten. Damit, so die Experten, hat der EuGH den „Spielraum für lohnpolitische Vorgaben im Vergaberecht wieder deutlich erhöht“.

Die Wissenschaftler raten den Bundesländern, diesen Spielraum zu nutzen und ihre vergabespezifischen Mindestlöhne – wie ursprünglich in NRW vorgesehen – an die unterste Tarifgruppe des öffentlichen Dienstes zu koppeln: So würden sie „eine klare Orientierungslinie“ gegen Lohndumping festlegen. Es sei „nicht nachvollziehbar, warum die Bundesländer ausgerechnet jetzt, wo seine unionsrechtliche Unbedenklichkeit bescheinigt wurde, auf dieses Gestaltungsmittel verzichten“.

  • Nur in wenigen Ländern gelten für öffentliche Aufträge Mindestlöhne, die substanziell über 8,50 Euro liegen. Zur Grafik

Ghazaleh Nassibi, Florian Rödl, Thorsten Schulten: Perspektiven vergabespezifischer Mindestlöhne nach dem Regio-Post-Urteil des EuGH (pdf), WSI-Policy-Brief Nr. 3, April 2016

Mehr Lesen:

Detlef Sack, Thorsten Schulten, Eva Katharina Sarter, Nils Böhlke: Öffentliche Auftragsvergabe in Deutschland – Sozial und nachhaltig?, Baden-Baden 2016

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